Außenansicht:Ist Luther noch relevant?

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Die Feiern zum 500. Jahrestag der Reformation bedeuteten einen großen Fortschritt. Doch die säkulare Welt bließ außen vor.

Von Lucian Hölscher

Am Dienstag war es so weit. Die evangelische Kirche feierte in der Schlosskirche Wittenberg den 500. Jahrestag von Martin Luthers 95 Thesen. Damit gingen das Reformationsjubiläum und gleichzeitig zehn Jahre intensiver Beschäftigung mit dem Thema Reformation zu Ende. Was haben sie gebracht? Die Bilanz ist gemischt: Am Anfang stand der Wille der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Fehler vergangener Jubiläen nicht zu wiederholen, bei denen Parolen von der nationalen Identität die Botschaft der Reformation verdunkelten. Das ist gelungen: Die nationale Verengung auf Deutschland, auf die deutsche Kultur und Nation ist vermieden, der Protestantismus als eine weit darüber hinausgreifende Reformbewegung sichtbar geworden. Deutlich geworden ist auch die kulturelle Vielfalt, die sie hervorgebracht hat: Anstöße für neue Entwicklungen in Wissenschaft und Bildung, Musik und Literatur - auch wenn dabei der vergleichende Blick auf andere religiöse Traditionen oft auf der Strecke blieb.

Schwerer fiel es der evangelischen Kirche, sich von ihrer anfänglichen Selbstbehauptungsstrategie zu lösen, die nach dem Motto ging: Wo Protestantismus drin ist, muss auch wieder Protestantismus drauf stehen. Im Lauf der Jahre hat sich dann doch die zunächst mehr höfliche als substantielle Einladung an Vertreter anderer Religionsgemeinschaften vertieft, das Jubiläum gemeinsam mit den Evangelischen in brüderlichem Geist zu feiern. Katholische und protestantische Kirchenvertreter haben ihre seit einiger Zeit erlahmten Konsensgespräche wieder aufgegriffen und sogar zu erstaunlichen gemeinsamen Erklärungen gefunden, wie das gemeinsame Wort "Erinnerung heilen - Jesus Christus bezeugen" vom September 2016. Sie sind sich dabei näher gerückt, allerdings wird der institutionelle Selbsterhaltungstrieb und das tief eingefleischte Misstrauen zwischen den Konfessionen noch lange dafür sorgen, dass die erhoffte "Einheit in der Vielfalt" nicht zur echten Überwindung des Kirchenschismas führt.

Gleichwohl, das Reformationsjubiläum hat neue Horizonte eröffnet: In einer anfangs kaum zu erwartenden literarischen Produktivität sind große theologische und historische Darstellungen der Epoche erschienen. Sie wurden viel gelesen und haben das Reformationsgeschehen noch einmal grundsätzlich neu aufgerollt. Sie haben den reformatorischen Einschnitt von 1517 im Kontext älterer Reformansätze relativiert und präzisiert und die protestantische Reformation als Teil eines gesamtkirchlichen Umbruchs vorgestellt, der auch die katholische Papstkirche erfasste. Dabei wurden auch die dunklen Seiten der Reformation, vor allem Luthers Judenfeindschaft, nicht ausgespart. Schließlich haben sie die Reformation wenigstens ansatzweise auch in einen gesamteuropäischen, teilweise sogar weltweiten Zusammenhang gerückt, der heute mit Begriffen wie Humanismus und neue Wissenschaftskultur, überseeische Expansion und Medienrevolution aufgerufen werden kann. Das Bild von der Reformation hat dadurch viel von seiner früheren Provinzialität und Deutschtümelei verloren.

Gleichwohl gibt es noch viel zu tun, um den Mehltau der eingefahrenen reformatorischen Gedächtniskultur loszuwerden. Die daraus entstehenden Aufgaben werden die beiden Großkirchen erst angehen können, wenn sie sich ihrer Zukunft inmitten der säkularen Gesellschaft stellen.

Die Wunden der religiösen Verfeindung sind trotz der friedlichen Koexistenz der Konfessionen noch nicht geheilt, auch sie trugen zur Abwendung weiter Bevölkerungsteile von den Kirchen bei. Das hinterließ auch im Reformationsgedenken seine Spuren: Angesichts der Tatsache, dass nur noch gut die Hälfte der deutschen Bevölkerung einer christlichen, ein reichliches Drittel sogar überhaupt keiner Religionsgemeinschaft angehören, kann es daher kaum überraschen, dass das öffentliche Interesse am Reformationsjubiläum trotz massiver staatlicher und medialer Unterstützung nur auf eine Minderheit begrenzt war. Außerhalb der kirchlich interessierten Kreise wurde die Botschaft von der Relevanz dieses politischen Großereignisses für die moderne Gesellschaft nur verhalten aufgenommen.

Die Kirchen sollten nicht versuchen, die frohe Botschaft als "Produkt" anzupreisen

Daran sind die Kirchen nicht unschuldig: Angetreten als neuzeitliche Geschichtsdeutung geriet ihr Bild von der Reformation weithin zur Pflege einer internen Erinnerungskultur. Was der öffentlichen Darstellung der Reformation im Jubiläumsjahr fehlte, war nicht die substantielle Erörterung ihrer theologischen und historischen Ursprünge und auch nicht ihre touristische Vermittlung, es war der Nachweis ihrer Relevanz für die moderne Gesellschaftsentwicklung. Alte protestantische Deutungsmuster wie die Charakterisierung der Reformation als Geburtsstunde der Freiheit, als treibende Kraft für die Entstehung des Kapitalismus oder gar der modernen Demokratie als Staatsform können heute nicht mehr überzeugen, zu groß waren die gegenläufigen Erfahrungen und die Impulse, die sich aus anderen Quellen speisten.

Eine sorgfältige Analyse des Anteils, den der Protestantismus an der Genese moderner Gesellschaften tatsächlich hatte und immer noch hat, wird nicht umhin kommen, sich mit der Säkularität dieser Gesellschaften zu befassen. Doch die Kirchen, so scheint es zumindest aus der Außenperspektive des säkularen Beobachters, wissen nicht so recht, was sie an dieser säkularen Gesellschaft haben und wie sie sich zu ihr verhalten sollen: Als Missionsgebiet im alten Sinn eines unbestellten Ackers, der die Saat des Evangeliums aufzunehmen bestimmt ist, lässt sie sich kaum noch gebrauchen; aber als Markt, auf dem die Kirchen ihre "frohe Botschaft" lediglich als "Produkt" anpreisen und dadurch "Kunden an sich binden", wohl auch nicht.

Die säkulare Gesellschaft ist, religionssoziologisch betrachtet, ein vielschichtiges Gebilde: Religionsfreunde gehören dazu ebenso wie Gleichgültige und Kirchenfeinde, letztere aber nur noch als kleine Minderheit. Viele säkulare Menschen schätzen die ethischen Orientierungshilfen der Kirchen, allerdings nicht mehr pauschal wie früher, sondern punktuell zum jeweiligen Anlass. Gleichwohl erscheint das Verhältnis der Kirchen zur säkularen Gesellschaft immer noch einseitig, nicht als Dialog mit einem Gegenüber, das auch den Kirchen etwas zu geben hat. Mit ihren selbstgesetzten Normen und Ansprüchen, von den Menschenrechten bis hin zum Schutz der Umwelt, fordert die säkulare Gesellschaft die Kirchen heraus und treibt sie dazu an, ihre Traditionen neu zu überdenken. Auch die säkulare Gesellschaft hält für die Kirchen "frohe Botschaften" bereit.

© SZ vom 03.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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