Außenansicht:Hinter dem Vorhang

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Michael Schindhelm, 54, ist Autor und Kulturforscher. Er hat mehrere Theater wie auch die Berliner Opernstiftung geleitet. (Foto: Aurore Belkin)

Der Wechsel an der Spitze der Berliner Volksbühne weckt unnötige Ängste vor einer Gentrifizierung der Theater.

Von Michael Schindhelm

Balis Hauptstadt Denpasar ist die Einflugschneise in ein Paradies, in dem Partygirls und Fünfsterne-Touristen mit Kulis und Brahmanen in der Regel einträchtig koexistieren. Die eigentliche Attraktion der Tropeninsel ist aber die Kulturlandschaft ihrer Reisfelder, genannt Subak, deren Anbautechnik 1200 Jahre alt ist und der philosophischen Idee einer Koexistenz von Gott, Mensch und Natur folgt. Seit 2012 ist das Subak-System auf der Unesco-Liste des Immateriellen Weltkulturerbes. Häufig schaffen es Bräuche und Praktiken auf diese Liste, wenn es schon zu spät ist. Wie viele saudische oder emiratische Beduinen aus Riad oder Doha trinken im Zeitalter von Starbucks & Co. noch arabischen Mocca (auch auf der Liste)? Oder wer übt in Deutschland die Falkenjagd aus, die bislang den einzigen Eintrag unseres Landes auf der Liste ausmacht?

Deutschland hat ehrgeizig eine Kulturlandschaft nominiert. Was den Balinesen der Reis, ist den Deutschen Mozart, Büchner und die Nussknackersuite. Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters schlug die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft vor und begründete das mit der Behauptung, dass "sich durch künstlerische Praktiken und Ästhetiken auf deutschen Bühnen Tradition und Innovation" verbänden. Christoph Wulf, Vizepräsident der deutschen Unesco-Kommission, legte nach: "Jedes Theater- und Konzertereignis ist ein Raum des Erlebens und Erkennens der Welt aus neuen Perspektiven. Theaterensembles und Orchester sind wichtige Akteure in der gesellschaftspolitischen Gegenwartsdebatte." Man könnte fragen, ob es in Warschau, Paris oder Barcelona nicht auch solche Akteure gibt und das Londoner West End nicht noch mehr Theaterereignisse zu bieten hat.

Sollte Einzigartigkeit ein Kriterium für Welterbe sein, dann gehören das deutsche Sprech- und Musiktheater dazu. Nicht so sehr wegen Debatten, Ereignissen und Innovation, sondern schlicht, weil es ein einzigartiges Biotop ist wie das Subak-System von Bali. Wie seit zwei- bis dreihundert Jahren Menschen - vor allem Künstler und Techniker aus Dutzenden von Berufen - nach raffiniert ausgeklügelten Spielregeln und Praktiken zusammenarbeiten, um ein Schauspiel, Ballett oder eine Oper auf die Bühne zu bringen, unterscheidet sich allemal vom Rest der Welt.

Das Besondere besteht im Zusammenspiel von Ensemble und Repertoire. Theaterleute gelten allgemein als Nomaden, doch hierzulande sind sie dank des deutschen Theatersystems sesshafter. Noch immer verbindet der Besucher sein Theater mit seinen Lieblingskünstlern, die er in Repertoirevorstellungen erlebt hat. Manche Produktionen überleben Generationen von Darstellern und Besuchern, weil sie immer wieder einstudiert und dank ihres Erfolges aufs Programm gesetzt werden.

Deuschlands Kulturlandschaft ist für die Unesco-Liste des Weltkulturerbes nominiert

Nach wie vor werden die Bühnenbilder von hoch spezialisierten Ingenieuren gebaut, wenden Kunsthandwerker traditionelle Stilmittel an, wird die Maschinerie jahrzehntelang von denselben gutausgebildeten Technikern bedient. Viele Theaterleute sind gewissermaßen im Theater geboren worden, es ist ihre Heimat. Diese Theaterheimat teilt sich irgendwie in einer Stadt und ihrer Bevölkerung mit, selbst wenn viele Einwohner die Bühne seit der Schulzeit kaum noch besuchen.

Bei näherer Betrachtung immaterieller Kulturlandschaften fällt neben dem Glanz jedoch auch das Elend ihrer Geschichte auf. Auf Bali starben 1965 mindestens 100 000 Menschen in einem Mordfeldzug, der sich vorgeblich gegen die Kommunistische Partei richtete. Viele wurden auf den Reisfeldern getötet, ihre Leichen versanken in der schlammigen Erde. Oft riefen die Balinesen ihre Götter an gegen Rattenplage oder Erdbeben. Auch in der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft gibt es Schlamm und Plagen. Doch vertraut das deutsche Theaterwesen nicht (mehr) den Göttern, sondern viel lieber dem Staat oder, wie es heute freundlicher heißt: der öffentlichen Hand.

Nicht nur künstlerische und technische Traditionen herrschen hier, sondern auch Staat, Gesetz und Tarif. Nicht allein die Künste stiften Identität, sondern auch Paragrafen. Der Arbeitsgeberverband der Theater wurde bereits 1846, die älteste noch aktive Theatergewerkschaft mit Reichsgründung 1871 gegründet. Schon im 19. Jahrhundert wurde an den Bühnen um Arbeitsplätze und -zeiten gekämpft. Um Künstlernot im Alter zu lindern, schuf die Weimarer Republik die bis heute bestehenden Versorgungsanstalten.

Fort lebt auch der in der NS-Zeit geschaffene Begriff des Kulturorchesters. Die 1938 von der Reichsmusikkammer beschlossene Tarifordnung für die deutschen Kulturorchester wurde von der nach dem Krieg geschaffenen Orchestergewerkschaft DOV akzeptiert und blieb bis 1971 in Kraft. Auch das gehört zum immateriellen Erbe einer Kulturlandschaft in Deutschland, ohne freilich in den zurückliegenden siebzig Jahren eine ähnliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten zu haben wie "Innovation" (Grütters) und "gesellschaftspolitische Gegenwartsdebatte" (Wulf).

Viele Ortskundige beschreiben die Welt der balinesischen Reisbauern als eine robuste Parallelwelt, in die die Zumutungen des globalen Tourismus nur langsam und oberflächlich eindringen. Allen Theaterschließungen, Etatkürzungen, Notreformen zum Trotz steht auch die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft klein aber mächtig im ansonsten wettbewerbs- und globalisierungsgepeinigten Deutschland. Als in ostdeutschen Städten nach 1990 die Wirtschaft unterging, erwiesen sich Theaterbetriebe oft als die größten und sichersten Arbeitgeber. Dank öffentlicher Hand und stabiler Tarifverträge. Im vergangenen Jahr haben 35 Millionen Besucher 120 000 Aufführungen erlebt. Die öffentlichen Aufwendungen beziffern sich in Milliarden.

Doch fühlt sich das kulturelle Erbe seit Neuestem durch das Gespenst der Gentrifizierung bedroht. Am sichtbarsten wird das am Streit über die Berliner Volksbühne. Mit der Übernahme der Direktion durch einen "fachfremden Ausländer" sehen Kritiker einen Bestandteil des Erbes und seine Identität bedroht. Der neue Mann verstehe nichts von der Ensemblekultur und verwandle das Haus in eine Abspielstätte für globalen Bühnen-Chic.

Vom Herbst an wird sich erweisen, ob es wirklich so schlimm kommt. Totgesagte leben bekanntlich länger. Ob nun mit oder ohne Unesco-Segen, das deutsche Theaterwesen scheint unverwüstlich zu sein. Sogar für das Nachleben des Künstlers ist in jeder Hinsicht gesorgt. Im Sterbegeldtarifvertrag heißt es: "Wer den Tod eines Musikers vorsätzlich herbeiführt, hat kein Anrecht auf Sterbegeld."

© SZ vom 12.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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