Außenansicht:Helles Land, dunkles Land

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Die Niederländer ringen schon länger mit Problemen, wie sie jetzt ihre Nachbarn erleben.

Von René Cuperus

Es ist eine Mischung aus Bewunderung, Erstaunen und Verwirrung, mit der die Niederländer die deutsche Flüchtlingsdebatte verfolgen. Es gab, vor allem vor den Vorfällen der Kölner Silvesternacht, großen Respekt für die deutsche Willkommenskultur und Angela Merkels bravouröses "Wir schaffen das". Man fühlte den schmerzhaften Kontrast zwischen Deutschland, das sich von seiner guten Seite zeigen wollte, und den Niederlanden, die viel zurückhaltender und verkrampfter auf den Flüchtlingsansturm reagierten. Der Grund: Das kleine, ehemals so weltoffene Nachbarland scheint inzwischen gequält zu sein durch Migrations- und Integrationstraumata, die von Rechtspopulisten wie Geert Wilders für ihre Zwecke genutzt werden.

Auf der anderen Seite betrachtete man Merkels Sprung nach vorn und ihre Politik der offenen Grenzen als riskant: Wie konnte es passieren, dass die eben noch so vorsichtige Merkel Hals über Kopf und gegen den Geist Max Webers Gesinnungs- über Verantwortungspolitik stellte? Kann es wahr sein, dass Deutschland die Stabilität seiner Gesellschaft aufs Spiel setzt für seine ewige Vergangenheitsbewältigung, für die Wiedergutmachung der Kriegsschuld?

Deutschland mag, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt, "ein verdammt starkes Land" sein. Wenn es aber ums Improvisieren, um den Umgang mit Unsicherheit und Unordnung geht, ist es aus niederländischer Sicht nicht gerade europäische Spitzenklasse. In Deutschland sieht man es gern, wenn die Dinge geregelt sind. Niederländische Beobachter, mich eingeschlossen, hielten denn auch den Atem an, dass ausgerechnet Deutschland ein derart gewaltiges politisches, soziales und kulturelles Experiment mit der eigenen Gesellschaft glaubte beginnen zu müssen. Dieses steht in hochgefährlichem Widerspruch zu jener "Suche nach Sicherheit" (Eckart Conze), in deren Zeichen die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik stand.

Am besten veranschaulichen lässt sich der besorgte niederländische Blick auf Deutschland anhand der Metapher, die Bundespräsident Joachim Gauck zu Beginn der Flüchtlingskrise einführte: der Unterscheidung zwischen einem hellen Deutschland und einem Dunkeldeutschland. Um es in einem einfachen Bild zu sagen: Die Niederländer finden das helle Deutschland etwas zu hell, und Dunkeldeutschland zu dunkel. Man bewundert die moralische Führung durch Merkel und die deutsche Willkommenskultur; bewundert auch die Freiwilligen und all die Beamten, die das Flüchtlingschaos in einigermaßen gute Bahnen gelenkt haben (mit Ausnahme des Berliner Lageso). Aber man macht sich auch Sorgen über die langfristigen Folgen der massenhaften Immigration für die deutsche Gesellschaft. Integrationsprobleme, kulturelle und religiöse Spannungen, die Zukunft des Rechtsstaats und des Sozialstaats. Importiert Deutschland ein neues Prekariat? Kann die deutsch-westliche Leitkultur einem derart massiven Zustrom von nicht-westlichen Muslimen standhalten? Ist das helle Deutschland historisch und soziologisch gesehen nicht gefährlich naiv?

In Deutschland haben Populisten die Unzufriedenheit der Menschen noch nicht vollständig ausgenutzt

Das betrifft auch die Gegenreaktion in Deutschland. Sehr besorgt sind die Niederländer nämlich auch über Dunkeldeutschland, die schwarze, gewalttätige rechtsextreme Szene von Neonazis und Verwandten. Der rechte Rand Deutschlands ist viel aggressiver, gewaltbereiter und umfangreicher als der in den Niederlanden. Die Niederlande haben ein riesiges Rechtspopulismus-Problem. Sie haben auch zahlreiche Aufstände echter Wutbürger, die gegen die Ankunft von Flüchtlingen in ihrer Stadt demonstrieren. Aber sie kennen keinen rauen Rechtsextremismus; es gibt kaum Angriffe auf Flüchtlingsheime.

Deutschland ist aus historischen Gründen langsamer "in der Realität angekommen", wie es so schön heißt. So war das Integrationsproblem lange Zeit viel kleiner als etwa in den Niederlanden. Dort gibt es schon lange den großen Unterschied zwischen türkischstämmigen Niederländern, die gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich sind, und aus Marokko stammenden Niederländern, die mit großen Anpassungsschwierigkeiten kämpfen.

Darüber hinaus hat Deutschland das Glück, dass es auf der rechten Flanke nur ein mageres Angebot gibt. Typen ohne Charisma wie Lutz Bachmann (Pegida), Thilo Sarrazin (SPD) oder Bernd Lucke (Ex-AfD) sind nicht vergleichbar mit Medien-Persönlichkeiten vom Kaliber Pim Fortuyn, Marine Le Pen oder Jörg Haider. In Deutschland sind die Unzufriedenheit und der Verlust an Vertrauen in das politische Establishment daher politisch noch längst nicht ausgereizt worden. Die immer schwächer werdenden Volksparteien wurden noch nicht wirklich herausgefordert.

Aber das Potenzial in Deutschland für einen Massenaufstand unzufriedener Bürger ist vermutlich so groß wie das Potenzial des Front National in Frankreich, vor allem wenn es Deutschland wirtschaftlich einmal schlechter gehen sollte. Wer glaubt wirklich, dass die populistische Zeitbombe, die überall in Europa tickt, an Deutschland vorbeigeht?

Bis "Köln" galt Deutschland als das Auge im europäischen Sturm aus Islamfeindlichkeit, Populismus, sozialen Angstneurosen. Das eher selbstzufriedene Deutschland von Angela Merkel war umgeben von Ländern, in denen das politische Establishment unter schweren Beschuss durch Antimigrations-Parteien oder -Bewegungen gekommen war, siehe Österreich, Frankreich, Polen, die Niederlande. In Deutschland versuchten etablierte Parteien und Medien lange, Pegida und AfD als Teil des rechten Rands zu dämonisieren.

Aber das wird nicht mehr so leicht gehen. Begreiflicherweise sind die massenhaften Angriffe auf Frauen in Köln Öl ins Feuer jener, die an der Willkommenskultur zweifeln. Die Flüchtlingskrise hat die Krise, in der sich Europa ohnehin befindet, um den Faktor 10 verstärkt. Deutschland ist im europäischen Normalzustand angekommen und muss nun, wie seine Nachbarn, mit wachsendem Widerstand der Bevölkerung gegen das Establishment rechnen. Wie die Niederländer werden auch die Deutschen euroskeptischer werden. Nicht, weil sie antieuropäisch sind, sondern weil sie das heutige Europa für nicht gut geführt und verwaltet halten und weil es sie stört, dass viele Mitgliedstaaten die solidarische europäische Schicksalsgemeinschaft untergraben. Und wie die Niederländer werden die Deutschen einwanderungskritischer werden. Die Bürger fordern eine besser geführte EU und eine glaubwürdige Flüchtlings- und Integrationspolitik. Das politische Establishment wird nicht unendlich viele Möglichkeiten bekommen, das in die richtige Richtung zu lenken.

© SZ vom 05.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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