Außenansicht:Eine Vision, die in die Irre führt

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Von einer Europäischen Armee zu schwärmen, ist nicht nur unrealistisch - es gefährdet auch Europas Sicherheit.

Von Rudolf G. Adam

Der französische Staatsmann Clemenceau hat einmal bemerkt, Krieg sei eine viel zu ernste Sache, um sie den Generälen zu überlassen. Als Europäer muss man sich heutzutage fragen: Darf man die Verteidigung den Visionären überlassen?

Emmanuel Macron hat eine "Europäische Armee zur Verteidigung Europas" gefordert, Bundeskanzlerin Angela Merkel griff die Anregung des französischen Präsidenten auf: "Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen." Damit könne der Welt gezeigt werden, dass es zwischen europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt. Aus anderem Anlass meinte sie, Europa müsse sein Schicksal "ein Stück weit in die eigene Hand nehmen". Aber wie arbeitet man an Visionen? Was heißt "eines Tages"? Was bedeutet "auch"? Wie unterscheidet sich eine "echte" von einer "unechten" europäischen Armee? Und was heißt "ein Stück weit"? Und brauchen wir wirklich eine europäische Armee, um den Frieden untereinander zu wahren?

Tatsache ist: Die EU-Staaten haben allzu oft zu keiner gemeinsamen Haltung gefunden: Weder im Irak-Krieg noch bei der Intervention in Libyen, weder im Nahostkonflikt noch gegenüber Russland und China. In der Ukraine-Krise spielt die EU keine Rolle. Obwohl sich der Syrienkonflikt auf die EU auswirkt, hat sie keinen Einfluss dort. Der Flüchtlingspakt mit der Türkei wurde von Deutschland im Alleingang ausgehandelt. Wie soll vor dem Hintergrund solcher Divergenzen ein gemeinsamer strategischer Wille entstehen? Wie sollen die EU-Staaten "ihre Entscheidungswege überdenken und verstärkt auf Einstimmigkeit verzichten", wie die Kanzlerin dies fordert? Demokratie bedeutet, dass jedes Volk seine eigenen demokratischen Legitimationsstränge hat. Kein demokratischer Staat kann sich in Existenz- oder Identitätsfragen überstimmen lassen.

Seit 1993 existiert das Eurokorps. 2004 sind mit der Europäischen Verteidigungsagentur und den EU-Kampfgruppen Instrumente geschaffen worden, um die Verteidigungsressourcen der EU-Staaten zu koordinieren und der EU militärische Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Die Kampfgruppen sind nicht ein einziges Mal eingesetzt worden. Die Ausrüstung bleibt zersplittert. Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Polen beschaffen amerikanische F35, selbst Deutschland liebäugelt mit diesem Flugzeug als Nachfolger für die Tornados. Wie könnten die Europäer ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, wenn sie nicht einmal die dafür notwendigen Werkzeuge herstellen können?

Die amerikanische Skepsis gegenüber der Nato ist keineswegs auf Präsident Trump beschränkt. Sie von Europa aus zu verstärken, indem man trotzig sagt, man könne sich ohnehin nicht mehr auf andere verlassen, bedeutet nur, denjenigen in die Hände zu spielen, die einen Keil zwischen Europa und seine transatlantischen Verbündeten treiben wollen. Sämtliche Staaten Osteuropas müssen sich für ihre Sicherheit auf andere verlassen. Für sie lautet die Frage nur, ob man sich auf die USA oder westeuropäische Staaten verlässt. Die Antwort lautet unisono: Lieber auf die USA!

Weder Briten noch Franzosen sind bereit, den Weg zu einer europäischen Armee zu gehen. Französische Abgeordnete warnen vor dieser "Utopie"; Jean-Yves Le Drian, damals Verteidigungs-, heute Außenminister, erklärte 2016: "Europa braucht keine imaginäre föderale Armee." Pierre de Villiers, bis vor Kurzem Chef des französischen Generalstabes, erklärte: "Wenn eine europäische Armee bedeutet, Einheiten zu verschmelzen und einem Generalstab in Brüssel zu unterstellen, sage ich Ihnen: unmöglich!" In Großbritannien löst das Gerede von einer europäischen Armee äußerstes Misstrauen aus. General Michael Jackson sagte: "Ich habe meiner Königin und allen Nachfolgern einen Treueid geschworen - nicht der ständig rotierenden EU-Präsidentschaft in Brüssel."

Je mehr Deutschland von einer europäischen Armee schwärmt, umso stärker entfremdet es das übrige Europa. Müssten die Pläne nicht auf ein europäisches Verteidigungsministerium samt europäischem Generalstab hinauslaufen? Wer wäre der Oberbefehlshaber einer europäischen Armee? Die Kommission? Ein Kommissar? Hätte das Europäische Parlament, wenn es um die Armee geht, die gleichen Rechte wie der Bundestag - die dieser dann zwangsläufig verlieren müsste?

Was Europa tatsächlich braucht, ist zunächst eine Vereinheitlichung bei Aufklärung, Sanitätswesen, Logistik, Wartung und Instandhaltung, Reparaturen, Ersatzteillagern, Ausbildung und Training. Als nächstes braucht Europa ein optimiertes Beschaffungswesen mit standardisierten, kompatiblen Systemen. Derzeit sind bei europäischen Streitkräften 17 Panzermodelle, 26 verschiedene Haubitzen, 20 verschiedene Kampfflugzeuge und 29 Schiffstypen im Dienst. Das verursacht immense Entwicklungs- und Produktionskosten sowie ebenso unnötig hohe Betriebs- und Reparaturkosten. Der dritte Schritt bestünde darin, die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten auf Weltniveau zu heben. Bei Satelliten, Drohnen, autonomen Systemen droht Europa den Anschluss zu verlieren. Der vierte Schritt würde die See- und Luftstreitkräfte in Europa integrieren. Dies alles ist viel vordringlicher als Heeresverbände einer europäischen Armee.

Europäische Sicherheit ist mehr als die Sicherheit der EU. Sie ist ohne Norwegen, Großbritannien und die Türkei nicht zu gewährleisten. Das EU-Europa verliert mit Großbritannien seinen militärisch stärkten Partner. Je stärker eine militärische Integration Europas innerhalb der EU betrieben wird, umso sicherer wird diese EU sich Großbritannien als Partner weiter entfremden. Integrierte Sicherheit und Verteidigung Europas hat jedoch nur unter Einschluss Großbritanniens Sinn. Europas Sicherheit braucht die großen Militärmächte und diejenigen Staaten, die an politischen Verwerfungslinien liegen. Letztlich wird die Frage, wie sich die Ukraine positioniert, von zentraler Bedeutung für eine Verteidigung Europas gegenüber potenziellen Drohungen aus Osten sein.

Ein Europa, das autonom in seiner Verteidigung sein will, muss eine Antwort auf nukleare Drohungen finden. Wäre Präsident Macron bereit, französische Nuklearstreitkräfte nahe den Außengrenzen Europas zu stationieren und sie einem europäischen Kommando zu unterstellen? Würden solche Dispositionen ausreichen, um eine Supermacht wie Russland hinreichend abzuschrecken? Solange diese Fragen nicht befriedigend beantwortet sind, ist es fahrlässig, davon zu sprechen, man könne sich nicht auf andere verlassen und brauche eine europäische Armee.

© SZ vom 18.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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