Außenansicht:Ein neuer Verteilungskonflikt

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Flüchtlinge und Migranten werden die Lohnkonkurrenz unter Geringqualifizierten verschärfen.

Von Stefan Luft

Mehr als zwei Jahre ist es her, seit Angela Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnete. Seither wird eines immer deutlicher: Fluchtmigration sollte sinnvollerweise nicht nach der "Nützlichkeit" der Ankommenden bewertet werden. Flüchtlinge werden aufgenommen, weil sie und so lange sie Schutz benötigen. Die öffentliche Debatte seit dem Spätsommer 2015 verlief jedoch ganz anders. Hier wurde immer wieder auf den Beitrag der Flüchtlinge zum Abbau des Fachkräftemangels hingewiesen. Ob jedoch deren Qualifikationen ausreichen, um in nennenswertem Ausmaß in den Arbeitsmarkt für Fachkräfte einzutreten, ist fraglich. Bildungsstand, Qualifikationen und - vor allem - fehlende Sprachkenntnisse der meisten Zugewanderten von 2015 rechtfertigen keine hohen Erwartungen.

Flüchtlinge gelten meist als Kandidaten für den Niedriglohnsektor. Sie haben ein großes Interesse, möglichst rasch irgendein Einkommen zu erzielen. Familienangehörige, die zurückbleiben mussten, erwarten finanzielle Unterstützung. Zudem haben viele zusammengelegt, um sich die gefährliche und teure Wanderung überhaupt leisten zu können. Sie erwarten, dass sich ihre Investition rentiert. Weltweit übersteigen die hierdurch entstehenden Finanzströme die staatliche Entwicklungshilfe inzwischen erheblich. Je niedriger der Lebensstandard im Herkunftsland war, desto größer ist die Bereitschaft, niedrige Löhne zu akzeptieren. Und: Viele Flüchtlinge können bei Niedriglohnarbeiten Einkünfte erzielen, von denen sie in ihren Herkunftsländern nur träumen könnten. Der Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte ist allerdings seit langem überfüllt. Der Wandel hin zur Informations- und Wissensgesellschaft hat zu einem Abbau entsprechender Arbeitsplätze geführt. Seit Mitte der 1970er Jahre liegt die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten um ein Mehrfaches über der von Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung. 2016 gab es 2,3 Prozent arbeitslose Akademiker, aber 19,1 Prozent Arbeitslose in der Gruppe ohne Berufsabschluss.

Vorschläge, für Flüchtlinge den Mindestlohn auszusetzen, leisten einer ethnischen Segmentation des Arbeitsmarktes Vorschub: Arbeitsmigranten wären dann in erster Linie auf unsichere Jobs angewiesen, die geringe Qualifikationen erfordern und niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Mit oder ohne Mindestlohn - noch stärkerer Wettbewerb und mehr Verdrängung werden hier nicht zu vermeiden sein, zumal der frühe Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt seit 2015 stark ausgeweitet wurde. Verlierer werden die einkommensschwachen Einheimischen (ob zugewandert oder nicht) sein. Die Lage ist regional unterschiedlich: In Teilen Baden-Württembergs und Bayerns sind die Arbeitslosenquoten Geringqualifizierter niedriger als anderswo. Im strukturschwachen Dortmund hingegen stehen 25 000 arbeitssuchende Un- und Angelernte einem Angebot von nur 900 freien Stellen in diesem Bereich gegenüber.

Die Tendenz zur Segregation sozialer Gruppen droht sich zu verschärfen

Einheimische Einkommensschwache konkurrieren mit den Fluchtmigranten zusätzlich um preiswerte Wohnungen - wie Hartz-IV-Bezieher sind sie auf Wohnraum im Niedrigpreissegment angewiesen, der sich vorwiegend in sozial benachteiligten Gebieten findet. "Es ist zu befürchten, dass sich in Kommunen mit hohen Armutskonzentrationen und steigenden Flüchtlingszahlen bereits bestehende Konzentrations- und Segregationstendenzen von Armut verschärfen", hieß es im Sozialbericht Nordrhein-Westfalens 2016. Auch in der öffentlichen Infrastruktur (wie in Kindergärten und in Schulen) und im öffentlichen Raum treffen beide Gruppen aufeinander.

Am anderen Ende der sozialen Skala bleibt die Begegnung und vor allem die Konkurrenz mit Flüchtlingen weitgehend aus. Im Gegenteil: Mehr potenzielle Arbeitskräfte für einfache, personalintensive Dienstleistungen (Wachleute, Reinigungskräfte, Lagerarbeiter) und vergleichbare Tätigkeiten etwa in der fleischverarbeitenden Industrie verschärfen die Lohnkonkurrenz, senken die Kosten, nützen jenen, die von diesen Dienstleistungen Gebrauch machen. Gewinner und Verlierer der Ausweitung des Arbeitskräftepotenzials sind also durchaus zu identifizieren.

Das machen auch die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten deutlich. Der Zustrom billiger Arbeitskräfte - vor allem aus Mexiko - wurde genutzt, um gewerkschaftliche Organisationsmacht zu schwächen, Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, Arbeitszeiten zu verlängern und Löhne zu senken. Die wirtschaftliche Ungleichheit hat in den USA auch aus diesen Gründen zugenommen. Mächtige wirtschaftliche Interessen haben bislang grundlegende Reformen verhindert.

Diese Mechanismen sind kein Spezifikum der USA, auch wenn der Sozialstaat etwa in Europa besser ausgebaut ist. Obwohl die Freizügigkeit für EU-Bürger aus osteuropäischen Staaten zunächst beschränkt war, wird auch das zusätzliche Arbeitskräftepotenzial von deutschen Unternehmen genutzt, um Tarifverträgen auszuweichen, vereinbarte Löhne und Arbeitsbedingungen zu unterlaufen. Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung weist nach, dass Arbeitnehmerentsendung und Solo-Selbständigkeit es ermöglichen, für die gleiche Arbeit am gleichen Ort unterschiedliche Löhne zu zahlen, den Mindestlohn und Versicherungsbeiträge zu umgehen.

Auch bei Hochqualifizierten in Mangelberufen läuft alles darauf hinaus, die Kosten zu senken und das Gehaltsniveau zu drücken. Mit der "Blauen Karte EU" können Angehörige von Staaten außerhalb der EU mit einer Verdienstgrenze weit unter dem Einstiegsgehalt eines einheimischen Berufseinsteigers arbeiten. Es entsteht Lohndruck - zum Nachteil vor allem von älteren Beschäftigten und Berufseinsteigern. Auch hier werden offene Grenzen als Instrument der Lohnpolitik genutzt. Alles soll sich am Bedarf des Arbeitsmarktes orientieren.

Definiert wird dieser Bedarf von den Arbeitgebern und ihren Verbänden. Wie wäre es einmal mit einer marktkonformen Lösung? Auf ein geringes Angebot in einzelnen Berufsfeldern müsste dann mit höheren Löhnen sowie mehr Ausbildung und Qualifikation reagiert werden. Immer noch suchen in Deutschland 5,7 Millionen Menschen Arbeit oder mehr Arbeit. Potenzial ist also auch auf dem inländischen Arbeitsmarkt vorhanden.

Wer die Tür zum Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte in großer Zahl öffnet - aus welchen ehrenwerten Motiven auch immer - muss mit Nebenwirkungen rechnen, die die Gerechtigkeitsfrage neu aufwerfen und Verteilungskonflikte provozieren. Ausweichen lässt sich ihnen nicht.

© SZ vom 12.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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