Außenansicht:Dienen ohne Zwang

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Ja, es braucht mehr Gemeinsinn. Der aber lässt sich nicht verordnen.

Von Lisi Maier

Es klingt alles so schön einfach: Jedes Jahr lindern Hunderttausende junge Menschen den Pflegenotstand durch ihren unentgeltlichen Einsatz. Sie lösen die Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr, nebenbei leisten sie einen Beitrag gegen die Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. Das alles sind vertretbare Ziele. Aber: Lücken im Dienstplan dürfen nicht durch einen "Pflichtdienst" gefüllt werden. Um Alte und Kranke zu pflegen braucht es vernünftig ausgebildete und bezahlte Fachkräfte - und nicht junge Erwachsene, die gesellschaftlich wichtige Arbeiten für ein Taschengeld und ohne professionelle Ausbildung erledigen müssen. Diese Lückenbüßer werden sonst schnell zur lohndrückenden Konkurrenz für reguläre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Ein verpflichtendes "Gesellschaftsjahr für alle" soll der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken, heißt es. Aber: Ein Jahr lang Menschen aus ungleichen Lebensverhältnissen durch den gemeinsamen Dienst gleicher machen zu wollen, ist wenig glaubhaft in einer Gesellschaft mit zwei- oder dreigliedrigen Schulsystemen und einem Sozialversicherungssystem, das besonders beitragsstarken Gruppen erlaubt, sich von der Gemeinschaftsverpflichtung zu befreien. Für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität müsste man schon etwas mehr verändern, als nur ein gesellschaftliches Pflichtjahr einzuführen.

Apropos Solidarität: Sind es nicht gerade eher einige mittelalte Männer und Frauen, denen es an solidarischem Bewusstsein mangelt? Sind es nicht die Storchs, Gaulands und Höckes, die unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt in ihren Grundfesten bedrohen? Ist es nicht der Streit in dieser Generation, wie viel Solidarität mit Schwachen, Benachteiligten und Geflüchteten nötig ist? Den Zusammenhalt stärken sollen jedoch nur die Jungen.

Dass junge Menschen sich engagieren, von Herzen und dauerhaft, ist lebenswichtig für eine Gesellschaft. Das aber erreichen wir nicht durch Zwang, sondern durch positive Angebote. Und da sieht die Lage gar nicht so schlecht aus. Viele Millionen der unter 35-Jährigen engagieren sich schon jetzt täglich und freiwillig in Vereinen und Jugendverbänden - in der Regel viel länger als nur ein Jahr. Sie setzen sich für den Umweltschutz ein und für die Integration Geflüchteter, organisieren Gruppenstunden und Zeltlager, bringen Kindern Schuhplatteln oder Klettern bei. Auch in den Freiwilligendiensten engagieren sich jährlich weit mehr als 100 000 junge Frauen und Männer, ob im Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahr, im Bundesfreiwilligendienst, in den internationalen, europäischen und entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten. Die Statistiken belegen, dass die Inlandsfreiwilligendienste keine elitäre Angelegenheit für gutbürgerliche Gymnasiastinnen sind, sondern ein Lerndienst für junge Menschen mit vielfältiger Herkunft und unterschiedlichen Bildungsbiografien. Seit Jahren gibt es bei den Jugendfreiwilligendiensten mehr Bewerbungen als Plätze. Für diejenigen, die sich seit Langem für eine Aufstockung dieser Plätze einsetzen, klingt die Sommerloch-Forderung nach dem Pflichtdienst wie Hohn.

Klar, es gibt Dinge, die dringend verbessert werden müssen. Als Jugendverbände machen wir dazu Vorschläge: von niederschwelligen Zugängen über mehr Mitbestimmung der Freiwilligen bei der Einsatzplatzgestaltung bis hin zur Anerkennung in Ausbildung und Studium - all das könnte die Freiwilligendienste als Lern- und Bildungsorte noch attraktiver machen. Und wenn ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr und mehr Taschengeld dazu führen würden, dass junge Erwachsene manchmal nicht auch noch Geld mitbringen müssen, um ein Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren, wenn Empfänger von Arbeitslosengeld II nicht auch noch draufzahlen müssten, wenn ihr Kind ein Freiwilliges Ökologisches Jahr leistet, dann würde dieses Engagement für viele junge Menschen mehr infrage kommen. Dafür war jedoch in den vergangenen Jahren zu wenig Geld oder zu wenig politischer Wille vorhanden - oder beides.

Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für die Gesellschaft, in der sie leben, ehrenamtlich einsetzen. Aber das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft ist für einen demokratischen Staat nicht erzwingbar. In diesem Dilemma steht jede staatliche Einwirkung auf die Zivilgesellschaft - ganz gleich, wie vernünftig, sinnvoll oder gut gemeint sie sein mag. Der Staat kann Ehrenamt und Engagement durch weniger Bürokratie und mehr Anerkennung unterstützen, aber er kann nicht darüber verfügen. Solidarität und Gemeinsinn lassen sich nur wirklich in Menschen verwurzeln, wenn sie sich freiwillig und selbstbestimmt dafür entscheiden.

Ja, diese Gesellschaft braucht mehr Empathie, Gemeinsinn und Solidarität. Aber ist es nicht verräterisch, wie diese Werte in einen Zwang projiziert werden, den man anderen Menschen auferlegen möchte? Dafür wird ein gängiges, aber falsches Vorurteil geschürt, nämlich dass die Jugend erst zu sinnvoller Tätigkeit gezwungen werden müsste. Mir würden einige Unternehmensvorstände, Aufsichtsratsvorsitzende sowie Politikerinnen und Politiker jenseits der 35 Jahre einfallen, denen ein Jahr Dienst im Altersheim, in der Kinderpflege oder der Geflüchtetenunterkunft richtig gut tun würde. Diejenigen werden froh sein, dass sich auch das nicht erzwingen lässt.

Lisi Maier , 34, ist Vorsitzende des Bundes der deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR)

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© SZ vom 14.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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