Außenansicht:Die neue Orientalische Frage

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Was die Türkei für Europa und seine Sicherheit im 21. Jahrhundert bedeutet.

Von Joschka Fischer

Die europäisch-türkischen Beziehungen waren über viele Jahre von einem tiefen Widerspruch geprägt. Dieser Widerspruch betraf weniger die objektiven Interessen als vielmehr die weichen, gleichwohl aber zentralen Grundlagen der Demokratie - Grund- und Menschenrechte, Pressefreiheit, Minderheitenrechte, Rechtsstaat und Geschichte, wie etwa die Verantwortung für den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich.

Mit dem Regierungsantritt der AKP schienen diese Konflikte überwunden zu sein, denn die AKP wollte die Türkei unbedingt in die EU führen und die türkische Wirtschaft modernisieren. Sie reformierte die Justiz und andere Bereiche, die für einen EU-Beitritt unverzichtbar waren. Aus heutiger Sicht erweist sich die damalige Einschätzung jedoch als viel zu optimistisch. Der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan hielt sich immer auch eine neo-osmanische Option in Richtung Nahost und der muslimischen Welt offen, vor allem von 2007 an, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy faktisch die Tür zur EU zuschlugen, in einer für Erdoğan demütigenden Weise.

In den jüngsten Tagen allerdings haben die ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen Europa und der Türkei eine Wendung ins Groteske genommen. Zweimal bestellte die türkische Regierung den deutschen Botschafter ein, um gegen eine kurze Satire über Präsident Erdoğan in einem norddeutschen Regionalprogramm des deutschen Fernsehens zu protestieren.

Man muss sich angesichts dieser Groteske fragen, was die türkische Diplomatie eigentlich über das Verhältnis der Deutschen zur Meinungs- und Pressefreiheit weiß, was über die Grundwerte der EU, der sie ja beitreten will. Oder was von ihrem Wissen, das man angesichts der Qualität der türkischen Diplomatie getrost unterstellen darf, den Präsidenten tatsächlich noch erreicht. An Satire wird es fortan den europäisch-türkischen Beziehungen jedenfalls nicht mangeln, das zumindest hat diese Aktion erreicht. Zudem liegt im deutschen Bundestag ein Resolutionsentwurf auf Halde, der wohl noch in diesem Frühjahr mit einer großen überparteilichen Mehrheit angenommen werden wird. Der Entwurf qualifiziert den Massenmord an den Armeniern 1916 als "Genozid" und wird absehbar neuen, großen Ärger mit Ankara verursachen.

Trotz dieser jüngsten Konflikte mit dem schwierigen Partner Türkei ist es aber von großer Bedeutung, dass Europa und seine Mitgliedstaaten nicht vergessen, dass es sich um eine Jahrzehnte währende Partnerschaft handelt, und dass diese Partnerschaft im überragenden Interesse beider Seiten liegt - Europa braucht die Türkei, und die Türkei braucht Europa. Das galt für die Vergangenheit und wird für die Zukunft noch sehr viel mehr gelten.

Der Preis für diese Partnerschaft kann allerdings niemals die Aufgabe der eigenen demokratischen Prinzipien sein. Dies läge auch nicht im Interesse der Türkei, die ja die europäischen Werte gerade für ihre eigene Modernisierung dringend braucht. Es wird vielmehr darum gehen, diese Spannung auch künftig auszuhalten und sie nach Möglichkeit geduldig und prinzipienfest abzubauen.

Auch wenn es zwischen Europa und der Türkei keine Partnerschaft gäbe, würde sich Europa von den Konsequenzen der geopolitischen Nachbarschaft zur Türkei nicht befreien können. Seit dem 19. Jahrhundert hat es Europa mit der sogenannten Orientalischen Frage zu tun, also der Frage, was mit der Erbmasse des niedergehenden Osmanischen Reiches auf dem Balkan und im Nahen Osten und mit den Meerengen geschehen solle. Das osmanische Erbe führte auf dem Balkan zu mehreren Kriegen und wurde schließlich mit der habsburgisch-serbischen Rivalität zum Auslöser der Jahrhundertkatastrophe Europas, des Ersten Weltkriegs.

Die Geschichte lehrt, als wie gefährlich sich die Orientalische Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwiesen hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist sie in leicht veränderter Form zurückgekehrt und dabei mitnichten ungefährlicher geworden, auch wenn von ihr keine innereuropäische Kriegsgefahr mehr ausgeht. Der Balkan ist vorläufig befriedet, jedenfalls solange dort der Glaube an eine europäische Zukunft in der EU erhalten bleibt; im Nahen und Mittleren Osten trifft man auf ein Machtvakuum und einen fortschreitenden Ordnungsverlust, voller Kriege, Terror, Krisen und Konflikte.

Die Irak-Intervention der USA und die anschließende Reduzierung der amerikanischen Sicherheitsgarantie in der Region - dabei tut es wenig zur Sache, ob es so ist; allein die Wahrnehmung durch relevante Akteure in der Region zählt - haben ein Machtvakuum hinterlassen, das zur offenen Rivalität zwischen der arabisch-sunnitischen Vormacht Saudi-Arabien und der schiitisch-persischen Vormacht Iran um die Vorherrschaft geführt hat. Auch die Türkei hat ihre Karten in diesem Spiel.

Eine isolierte, vereinsamte Türkei am Rande Europas und des Nahen Ostens - ein Albtraum

Hinzu kommen noch ein erschreckendes Modernisierungsdefizit und eine entsprechend explosive demografische und soziale Lage in den meisten arabischen Staaten, Terrorismus und religiöser Extremismus, ungelöste Konflikte wie der israelisch-palästinensische und die Kurdenfrage. Beide bedürfen einer politischen Lösung, da sie militärisch nicht gelöst, sondern höchstens verwaltet werden können, um den Preis einer immer gefährlicheren Aufladung dieser Konflikte. Schließlich die Kriege in Syrien und in einem gewissen Maße auch im Irak; sie haben die Massenflucht nach Europa ausgelöst und können eine regionale Destabilisierung durch Staatszerfall, Terrorismus und Infragestellung der Grenzen herbeiführen.

Seit der militärischen Intervention Russlands in Syrien droht zudem die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes zwischen dem Nato-Mitglied Türkei und Russland (wie mit dem Abschuss einer russischen Maschine durch die Türkei bereits einmal geschehen) mit all seinen nur schwer absehbaren Folgen.

Die wieder aufgetauchte Orientalische Frage hat das Potenzial, zu einer Art Super-Balkan zu werden, mit einem enormen Sicherheitsrisiko für Europa. Höhepunkt dieses Albtraumszenarios wäre eine isolierte, entfremdete, politisch vereinsamte Türkei am Rande Europas und am Rande des Nahen Ostens, deren demokratisches Potenzial sich an der Kurdenfrage erschöpfen und die sich so Schritt für Schritt destabilisieren würde.

Es geht heute gewiss um die europäischen Werte, aber es geht zugleich um sehr viel mehr in den europäisch-türkischen Beziehungen, nämlich um die europäische und türkische Sicherheit im 21. Jahrhundert.

© SZ vom 06.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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