Außenansicht:Deutsche in ihrem Vorgarten

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Es ist Zeit, dass sich die Jamaika-Koalitionäre mit Macrons Vorschlägen befassen.

Von Christophe Bourdoiseau

Jacques Brel sagte einmal: "Das schwierigste für einen Menschen, der in Vilvoorde wohnt und in Hongkong leben könnte, ist nicht nach Hongkong umzuziehen, sondern Vilvoorde zu verlassen". Damit meinte der belgische Chansonnier die Beobachtung, dass manche Leute an ihrer Existenz nie etwas ändern, weil sie Angst vor Veränderung haben. Lieber bleiben Sie in einer traurigen Brüsseler Vorstadt hängen, aus lauter Bequemlichkeit

So etwas passiert gerade in Berlin. Den Parteien der künftigen Jamaika-Koalition fehlt der Mut, Vilvoorde zu verlassen . Europa steht in Trümmern und deutsche Politiker reden über ihre Vorgärten. Sie streiten über den Soli-Zuschlag, die Mütterrente und das Beerdigungsdatum des Verbrennungsmotors. Und Europa? Kaum ein Wort darüber.

Das hätte aber das wichtigste Streit-Thema der Jamaika-Sondierung sein sollen. Jeder weiß, dass sich die vier Parteien über die notwendigen Reformen in Europa nicht einig sind. Zwar hat die FDP ihre Forderung nach Abschaffung des Rettungsfonds ESM aufgegeben. Ein großer Wurf für die Europapolitik ist das aber noch nicht. Das klingt alles eher nach Kontinuität. Wir brauchen aber keine Kontinuität, sondern eine Revolution.

Seit den EU-Reformplänen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist in Frankreich eine Aufbruchstimmung entstanden, die man sich auch für Deutschland wünschen würde. Die Vorschläge sind leider in Berlin mit wenig Begeisterung aufgenommen worden. Viele Politiker reagieren nach dem alten Ablehnungsmuster: Germany first. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann behauptet: "Es läuft letztendlich auf mehr Transfer hinaus." Die Liberalen unterstellen Macron sogar, dass er Geld von Deutschland wegpumpen will. Eine "Geld-Pipeline" dürfe es nicht geben, meinte FDP-Chef Christian Lindner zu den Plänen aus Frankreich. Sein Vize Wolfgang Kubicki machte sich gar über die Vorschläge lustig: "Die Idee, dass Deutschland alles bezahlen soll, die hätte ich als französischer Politiker auch."

War das schon die Antwort von künftigen deutschen Ministern auf Macrons Vorstoß?

Anscheinend haben viele deutsche Politiker seine Rede entweder nicht verstanden oder nicht nachgelesen. Macron bettelt nicht. Er hat auch nicht an die Deutschen appelliert, seine Vorschläge zu finanzieren, er machte der künftigen Regierung vielmehr ein Angebot: den deutsch-französischen Motor zu reaktivieren, um Europa zu retten. Die Vorstellung des Präsidenten hat mit einer Transferunion nichts zu tun. Die Haushalte der Mitgliedstaaten bleiben eigenständig. Er geht um viel mehr. Es geht um eine grundlegende Debatte über unsere gemeinsame Zukunft ohne Großbritannien.

Alle wissen es doch: Ein Frexit wäre das Ende Europas

Wollen wir ohne die Briten und mit weniger Schutz durch Amerika Europa so umbauen, dass es endlich funktioniert? Wollen wir nicht gemeinsam den Terrorismus bekämpfen, unseren Arbeitsmarkt und unsere Umwelt schützen? Oder wollen wir - wie im 19. und 20. Jahrhundert - dass jeder seine eigene Wirtschaftspolitik macht und sich seine eigenen Verbündeten aussucht? Wollen wir, dass Amazon, Facebook und Co. uns weiter gegeneinander ausspielen nach dem Motto: Wer bietet mir einen Sitz ohne Steuern? Apple ist gerade auf der Suche nach so einem "Paradise"-Europa.

Europa schützt die Bürger vor der Globalisierung besser als jede absurde nationalistische Politik, so Macron. Der französische Präsident spricht nicht mehr von nationaler- sondern von europäischer Souveränität. Das ist sehr mutig, wenn man bedenkt wie viele Politiker aller Couleur die leeren Versprechungen der AfD kopiert haben, statt sich mit der Erneuerung Europas zu beschäftigen.

In Zeiten der Globalisierung können weder Frankreich noch Deutschland allein agieren oder regieren. Gemeinsam müssen wir eine Armee aufbauen, einen europäischen Nachrichtendienst, eine Staatsanwaltschaft, Universitäten und Zivilschutz. Wir müssen uns für eine gemeinsame Asyl-, Steuer-, Bildungs-, Digital-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Entwicklungspolitik entscheiden. Wir brauchen neue Institutionen. Ja, es gibt sehr viel Arbeit. Die neue Welt aber wird auf uns Europäer und auf unsere Werte keine Rücksicht nehmen. Keine Grenze in Bayern - schon gar keine "Obergrenze" - kann Deutschland vor einer neuen Flüchtlingswelle bewahren, sondern einzig und allein eine europäische Migrationspolitik. Das war die Botschaft von Macrons Sorbonne-Rede.

Dazu müssen wir aber solidarisch sein. Und dies erfordert einen eigenen Haushalt und einen Finanzminister für die Euro-Zone. Wenn die Liberalen und Mitglieder der CDU dies nicht so wollen, ist es verständlich. Nur müssen sie uns dann erklären, wie man ein starkes Europa finanzieren soll. Und bitte ohne Belehrung. Frankreich ist kein Schüler der deutschen Finanzorthodoxie, sondern ein Koalitionspartner.

Die Zweifel an Europa und das Misstrauen in die alten Institutionen in Brüssel sind so gewachsen, dass heute kaum jemand noch an das Überleben des europäischen Projekts glaubt. Seit dem katastrophalen "Nein" beim französischen Referendum zur Europäischen Verfassung 2005, ist Europa ein bequemer Sündenbock geworden. Die Bürger haben genug von dieser Kommission, in der jedes Land seine eigenen Interessen vertreten - und dabei die ganze Gemeinschaft blockieren kann. Die Populisten haben es perfekt verstanden den desolaten Zustand Europas zu nutzen, um Wähler zu gewinnen. Anstatt gegenzusteuern, haben die etablierten Parteien auf eigene Vorschläge verzichtet, weil sie Angst hatten vor der eigenen Bevölkerung .

Die Wahl Emmanuel Macrons ist ein Glücksfall. Alle anderen Kandidaten hätten nicht diesen Mut gehabt. Berlin darf diese einzigartige historische Chance nicht verspielen. In fünf Jahren wird es zu spät sein. "Ihr habt keine Wahl, sonst werdet ihr schrittweise Euren Platz den Nationalisten überlassen müssen", hat der französische Präsident prophezeit. Wir alle wissen, dass ein Frexit das Ende Europas bedeutet. Also?

Mit seinem Triumph bei den französischen Wahlen hat Macron bewiesen, dass man auch mit einem Programm für Europa politisch gewinnen kann. "Habt keine Angst", hat er in seiner Rede wiederholt. Die Botschaft war an die Jugend Europas adressiert. Aber auch an die künftige Regierung in Berlin. Die Jamaikaner haben die Schlüssel zur Erneuerung Europas in der Hand. Wenn die Deutschen Macrons Vorschlägen nicht ernsthaft entgegenkommen, werden die Franzosen und die Europäer es ihnen nicht verzeihen. Es ist Zeit, Vilvoorde zu verlassen.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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