Außenansicht:Der Arzt und der Tod

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Gian Domenico Borasio, 55, lehrt Palliativmedizin an der Universität Lausanne in der Schweiz. Er leitet die Palliative-Care-Abteilung am Universitätsspital, wo sterbenskranke und sterbende Menschen betreut werden. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Rechtslage zur Suizidhilfe bedarf dringend der Klärung - die jetzige Lage bringt vor allem die Mediziner in Not.

Von Gian Domenico Borasio

Anja D. wollte sterben. Das ist wohl das Einzige, worüber sich alle einig sind im Berliner Prozess gegen Christoph Turowski. Der 63-jährige Arzt hat seiner langjährigen, von nicht linderbaren Schmerzen geplagten Patientin Medikamente für ihre Selbsttötung verschrieben, sie nach der Tabletteneinnahme in ihrer Wohnung bewusstlos aufgefunden und keine Rettungsversuche unternommen. Er sagt dazu: "In solch einer Situation die Patientin allein zu lassen, halte ich für moralisch und ethisch unvertretbar."

Die Staatsanwaltschaft sieht es anders und hat den Arzt angeklagt mit dem schwer verdaulichen Rechtskonstrukt der "Tötung auf Verlangen durch Unterlassen". Sie beruft sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1984. Es besagt im Kern, dass der Arzt einer absoluten Rettungspflicht bei jedem Suizidenten unterliegt, sobald dieser das Bewusstsein verloren hat - bis dahin darf der Sterbewillige allerdings, sofern er urteilsfähig ist, aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts jeden rettenden Eingriff verweigern. Denn dass der Sterbewille des freiverantwortlich handelnden Patienten die Rettungspflicht selbst von sogenannten "Garanten" einschränkt, zum Beispiel nahen Angehörigen oder Ärzten, wurde schon 1987 vom Oberlandesgericht München im berühmten "Hackethal"-Prozess festgestellt und 2010 von der Staatsanwaltschaft München bekräftigt.

Während also in Berlin eifrig auf der Basis einer 34 Jahre alten und von der Fachwelt als längst überholt betrachteten Rechtsprechung prozessiert wird, stehen in Bonn beim Thema Suizidhilfe die Räder still, obwohl die Rechtsprechung, um die es geht, sozusagen nagelneu ist: Am 2. März 2017 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass das Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte verpflichtet ist, Patienten in "extremen Notlagen" den "Zugang zu einem Betäubungsmittel, das eine schmerzlose Selbsttötung ermöglicht", zu gestatten. Inzwischen haben insgesamt 86 Menschen einen entsprechenden Antrag beim Bundesinstitut gestellt.

Um die Umsetzung des Urteils aufzuhalten, hat das Institut, das dem geschäftsführenden Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) unterstellt ist, ein Gutachten beim ehemaligen Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in Auftrag gegeben. Der konservative Katholik Di Fabio kam, wenig überraschend, zu dem Schluss, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verfassungswidrig sei. Daraufhin hat das Arzneimittel-Institut die Bearbeitung der eingegangenen Anträge eingestellt, trotz der inzwischen anhängigen Untätigkeitsklagen. Vier der Antragsteller sind mittlerweile verstorben.

In Oregon hat sich eine strenge Regelung der Hilfe für Sterbenswillige bewährt

Nun sind persönliche Meinungen selbst renommierter Rechtsgelehrter nicht ausreichend, um ein höchstrichterliches Urteil auszuhebeln. Das weiß auch Di Fabio und schlägt deshalb einen sogenannten "Nichtanwendungserlass" durch Gröhes Ministerium vor. Das heißt im Klartext eine amtliche Anweisung zur Missachtung des Gerichtsurteils - ein politisch wie juristisch äußerst heikler Schritt. Stattdessen ruft Gröhe den Bundestag auf, "für Klarheit zu sorgen". Nur das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Es ist seine Umsetzung, die bewusst verunmöglicht wird. Wie lange noch?

Diese Frage wird wohl letztlich das Bundesverfassungsgericht beantworten müssen. Das Thema Suizidhilfe beschäftigt die Karlsruher Richter schon seit geraumer Zeit: Elf Beschwerden liegen dem höchsten deutschen Gericht gegen den am 6. November 2015 im Strafgesetzbuch neu eingeführten Paragrafen 217 vor. Dieser stellt die sogenannte "geschäftsmäßige" Suizidhilfe unter Strafe. Wobei "geschäftsmäßig" nicht etwa "mit Gewinnabsicht" bedeutet, sondern lediglich "auf Wiederholung angelegt". Das heißt, jeder Arzt, der - wie Christoph Turowski - einem unerträglich leidenden Patienten Suizidhilfe leistet, macht sich sofort einer Straftat verdächtig, da davon auszugehen ist, dass er dies bei anderen Patienten in vergleichbaren Situationen ebenfalls tun würde. Denn ärztliches Handeln ist nun mal per se auf Wiederholung angelegt.

Die Behauptung der Initiatoren des Gesetzes, wonach "keinem Arzt, der einmalig Suizidhilfe leiste" durch den neuen Paragrafen etwas drohe, ist nach Meinung fast aller Strafrechtsexperten unhaltbar. Alleine wegen der Unsicherheit, wem durch den neuen Paragrafen 217 nun tatsächlich eine Strafe droht und wem nicht, hatte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon im Vorfeld der Abstimmung starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes geäußert.

Auch international geht die Sterbehilfe-Diskussion unvermindert heftig weiter. In den Beneluxländern wird über eine Lockerung der Regelungen zur Tötung auf Verlangen debattiert. Kanada und Kolumbien haben die Tötung auf Verlangen straffrei gestellt, und in Frankreich liegen dem Parlament derzeit zwei Gesetzesentwürfe in dieser Richtung vor. Diese Praxis ist gefährlich, unter anderem, weil sie nachweislich zu Tötungen ohne Verlangen führt. Und sie ist unnötig, weil mit dem ärztlich assistierten Suizid eine ethisch wie rechtlich wesentlich weniger problematische Option zur Verfügung steht - allerdings nur dann, wenn sie gesetzlich klar geregelt wird. Dies ist in der Schweiz nicht der Fall, was derzeit zu zweifelhaften Ausweitungstendenzen in Richtung gesunder Hochbetagter und psychisch Kranker führt.

In den USA hat kürzlich Kalifornien die ärztliche Suizidhilfe nach dem Vorbild des Bundesstaats Oregon per Volksabstimmung eingeführt. In Italien, wo nach jahrelangem Ringen erst Ende 2017 ein Gesetz zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen erlassen wurde, hat jüngst ein Mailänder Gericht die Verfassungsmäßigkeit des geltenden Suizidhilfe-Verbotes angezweifelt und die Frage dem italienischen Verfassungsgericht vorgelegt. Die Rechtslage ist also weltweit im Fluss. So gut wie nirgendwo gibt es jedoch so viel Rechtsunsicherheit bezüglich dessen, was am Lebensende wann wem und warum erlaubt oder verboten ist, wie in Deutschland.

Das neue Gesetz hat die Situation nur verschlimmert. Seiner Aufgabe, einen menschenfreundlichen Ausgleich zwischen dem staatlichen Fürsorgeauftrag und dem Recht auf Selbstbestimmung zu finden, ist der Bundestag bis jetzt nicht gerecht geworden. Es ist höchste Zeit, dass aus Karlsruhe ein klares Signal für eine vernünftige Lösung kommt. In Oregon hat sich eine an strenge Voraussetzungen gekoppelte gesetzliche Regelung der ärztlichen Suizidhilfe seit über 20 Jahren bewährt - das könnte eine Orientierungshilfe sein.

© SZ vom 07.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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