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Mehr und mehr Schüler studieren - eine problematische Tendenz, wie das Beispiel England zeigt.

Von Julian Nida-Rümelin

Von Jahr zu Jahr wird ein Mangel des deutschen Bildungssystems deutlicher sichtbar: Es fehlen Auszubildende. Dadurch sind Facharbeiterberufe bedroht, denn der handwerklich-technischen und der mittelständischen Wirtschaft geht so das kundige Personal aus. Gleichzeitig verliert die akademische Bildung augenscheinlich an Substanz, die Wirtschaft ist jedenfalls mit den Bachelor-Absolventen unzufrieden.

Der Ursprung dieser Fehlentwicklung liegt in einer unreflektierten Orientierung an vermeintlichen internationalen Vorbildern. Sie führt das deutsche Bildungssystem auf einen gefährlichen Pfad, an dessen Ende Fachkenntnisse durch eine oberflächliche Kompetenzorientierung ersetzt werden. Die Folgen wären ein Verlust an sozialer Mobilität und gesellschaftlichem Zusammenhalt, vor allem aber eine wachsende Jugendarbeitslosigkeit.

Ein Vergleich mit Großbritannien ist hier höchst aufschlussreich: Die Wirtschaft des Landes läuft gut, sie leidet nicht unter der Euro-Krise, da Großbritannien seine eigene Währung beibehalten hat. Die Arbeitslosigkeit bewegt sich auf dem Niveau Deutschlands (die aktuellen Werte liegen bei 5,4 Prozent in Großbritannien und 4,6 Prozent in Deutschland). Das britische Bildungssystem ist dagegen ganz anders organisiert als das deutsche. An der Spitze stehen zwei Universitäten, die zu den besten der Welt gehören, nämlich Oxford und Cambridge. Keine einzige Universität in Deutschland kommt auch nur in die Nähe von deren Exzellenz. Mehr als zwei Drittel der jungen Menschen mit Hochschulreife beginnen auch zu studieren; eine nicht-akademische berufliche Bildungstradition existiert kaum mehr.

Circa 30 Prozent der Erwerbstätigen sind Akademiker - das sind etwa doppelt so viele wie in Deutschland (16 Prozent). Die Studienanfängerzahlen liegen um circa 50 Prozent höher als in Deutschland. Fachliche Qualifikation ist weitgehend entwertet. Es gilt die immer wieder zitierte Regel, man kann Classics (also antike Sprachen und antike Geschichte) studieren mit dem Berufsziel, Banker zu werden. Der Zusammenhang zwischen fachlicher Qualifikation und beruflicher Orientierung ist lose, andererseits sind die Bachelor-Studiengänge in Großbritannien weit fokussierter als etwa in den USA. Sie vermitteln also nicht primär Allgemeinbildung, sondern die Grundlagenkenntnisse eines Faches. Wie das Beispiel Großbritannien illustriert, lässt sich daraus der Schluss ziehen: Ein Übermaß an Akademisierung führt zu einem Verlust an Fachlichkeit.

Sicherlich ist es nicht die einzige Aufgabe des Bildungswesens, für einen Beruf zu qualifizieren. Allgemeinbildung und auch Persönlichkeitsbildung sind mindestens ebenso wichtig. Dennoch sollte es zwischen derjenigen Lebensphase, in der die Bildung im Mittelpunkt steht, und derjenigen Lebensphase, in der der Beruf im Mittelpunkt steht, möglichst wenig Brüche, Erfahrungen des Scheiterns und existenzielle Ängste geben. In welchem Umfang es einem Bildungssystem gelingt, den Übergang in den Beruf friktionsfrei zu gestalten, lässt sich gut an der Höhe der Jugendarbeitslosigkeit ablesen. Wenn in einem Land die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist, gerade im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosigkeit, dann deutet dies darauf hin, dass das Bildungssystem und das Berufssystem nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind.

In England sind fast doppelt so viele Jugendliche arbeitslos wie in Deutschland

Großbritannien ist auch dafür ein auffälliges Beispiel: Die Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien (16 Prozent Ende 2014) ist mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland (sieben Prozent) - obwohl die allgemeine Arbeitslosigkeit in Großbritannien auf einem ähnlich niedrigen Niveau ist wie in Deutschland. Dies ist nicht lediglich eine nüchterne Zahl, sondern ein Indikator dafür, dass trotz eines weitgehend liberalisierten Arbeitsmarktes der Berufseinstieg unter den Bedingungen einer sehr weitgehenden Akademisierung erschwert wird.

Es kann angesichts der internationalen Vergleichsdaten gar kein Zweifel daran bestehen, dass der Übergang zwischen Bildungs- und Berufsphase in Ländern mit einer starken nicht-akademischen Berufsbildungstradition besser gelingt. Die drei Länder mit der niedrigsten Akademisierungsquote und dem höchsten Anteil an nicht-akademischer Berufsbildung (Deutschland, Österreich und die Schweiz) belegen zugleich die ersten Plätze unter den industrialisierten Ländern hinsichtlich ihrer niedrigen Jugendarbeitslosigkeit. Diese liegt dort nicht einmal halb so hoch wie beim Durchschnitt der industriell entwickelten Länder. Die Aufforderung, sich Großbritannien als Bildungsgroßmacht zum Vorbild zu nehmen, müsste also mit dem Warnhinweis versehen werden: Vorausgesetzt Sie sind bereit, eine Verdoppelung der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in Kauf zu nehmen.

Aber zahlen wir dafür in Deutschland, der Schweiz oder Österreich nicht einen hohen Preis? Führt unser Bildungssystem nicht zu sozialer Immobilität, blockiert dies nicht den Aufstieg durch Bildung? So könnte man denken, aber ein Blick in die Empirie zeigt, dass dies ein Irrtum wäre: Deutschland weist eine weit höhere soziale Mobilität auf als Großbritannien. Zusammen mit Großbritannien gehört Italien zu den industrialisierten Ländern mit einer auffällig niedrigen sozialen Mobilität. Diese liegt lediglich in der Größenordnung von südamerikanischen Ländern wie beispielsweise Chile, allerdings noch vor Brasilien oder gar Peru. Auch die USA und Frankreich haben eine geringere soziale Mobilität als Deutschland.

In Deutschland ist die Mittelschicht überwiegend aus der Facharbeiterschaft und nicht aus Akademikern zusammengesetzt. Dies erklärt die höhere soziale Mobilität hierzulande. In Ländern mit hoher Akademisierungsquote tendiert der Arbeitsmarkt zu einer Spaltung in ungelernte Kräfte, die sich von Job zu Job hangeln, und denjenigen mit Beruf. Die Mittelschicht wird in solchen Ländern fast ausschließlich von Akademikern gebildet. Ich will nicht hoffen, dass diejenigen, die Großbritannien als Vorbild preisen, die Mittelschichten folgendermaßen abschotten wollen: Zur Mittelschicht gehört nur, wer studiert hat. Der ungeregelte Jobmarkt, der für Nicht-Akademiker und Immigranten in solchen Ländern bereitsteht, soll dann die Lücken füllen, die der Mangel an Facharbeitern mit sich bringt.

Angesichts dieser Zusammenhänge empfiehlt es sich, in Mitteleuropa die berufliche Bildung auszubauen und nicht abzuwracken. Das aber ist nur möglich, wenn sich Deutschland auf die Stärken seiner eigenen Bildungstradition besinnt. Die Schwächen anderer Länder zu kopieren hilft mit Sicherheit nicht weiter.

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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