Aufsätze:Vom modernen Leben

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Der britische Historiker Tony Judt machte sich einen Namen als Israel-Kritiker und als scharfzüngiger Richter über die Regierung George W. Bush. Ein Band versammelt nun brillante Skizzen und alte Essays des 2010 Verstorbenen.

Von Isabell Trommer

"Locomotion No. 1" hieß der erste Zug, der Passagiere von einem Ort zum anderen brachte. Im Jahr 1825 verkehrte die Dampflok in Nordostengland zwischen Stockton und dem etwa fünfzehn Kilometer entfernten Darlington. Fünf Jahre später wurde die nächste öffentliche Strecke mit Personenzügen befahren: von Liverpool nach Manchester. So begann die Zeit der Massenbeförderung und der Gruppenreisen. Die Bahn, schreibt der britische Historiker Tony Judt, sei das ewig moderne Transportmittel, der Bahnhof ihr immobiles Monument. Sie habe nicht nur die Fortbewegung erleichtert, den Raum erobert, sondern auch die Wahrnehmung der Welt verändert.

"Locomotion" hieß ein Projekt Judts, zu dem es zwei Skizzen gibt; er kam nicht mehr dazu, das Buch zu verfassen. Die beiden Texte sind die Juwelen in dem Essayband, den Jennifer Homans, die Witwe des 2010 verstorbenen Professors für Europäische Studien an der New York University, nun posthum herausgegeben hat. Er versammelt Buchbesprechungen für die New York Review of Books, Artikel für New Republic und die New York Times, auch ein bisher unveröffentlichter Text über den Nahostkonflikt ist enthalten. Es sind Rezensionen zu Büchern über die Geschichte Europas, Vorträge, politische Interventionen oder Auseinandersetzungen mit Israel.

In seinen Stücken über die Eisenbahn erzählt Tony Judt den Aufstieg, Fall und die vorsichtige Renaissance dieses großen, staatlich finanzierten, gemeinschaftlich genutzten, fast egalitären Projekts. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in den meisten Ländern die Anzahl der Klassen immerhin auf zwei reduziert. Doch seit den 1950er-Jahren gruben der immer günstiger werdende Individualverkehr und die Privatisierung zum Beispiel der Bahn in Großbritannien und den Vereinigten Staaten das Wasser ab, ließen sie marode werden. Dass einige asiatische, lateinamerikanische und westeuropäische Staaten in den letzten Jahrzehnten wieder stärker in den Ausbau des Zugverkehrs investierten, sieht Judt als Zeichen dafür, dass der Pkw-Verkehr durch gesetzliche Vorschriften womöglich doch allmählich reduziert wird.

In Judts Begeisterung für die Eisenbahn bildet sich der Kern seiner politischen Überzeugungen ab: Er denkt das moderne Leben von der Gesellschaft und nicht vom Individuum her. Ohne die Eisenbahn, so Judt, wüssten wir nicht mehr, wie wir als Gemeinschaft leben, wie man den öffentlichen Raum zum Nutzen aller einrichtet. (Die Vereinigten Staaten würden als SUV wahrgenommen, schreibt er 2003 in einem anderen Text.)

Aus diesem Geist heraus sind die meisten seiner Essays verfasst, auch sein letzter Vortrag an der New York University im Oktober 2009. Von einem Linkszionisten ist er zum skeptischen, im Grunde konservativen Sozialdemokraten geworden. Und damit sind nicht Positionen gemeint, wie sie der rechte Flügel der SPD vertritt. Ähnlich wie die Politologin Judith Shklar, die mit ihrem Konzept eines "Liberalismus der Furcht" die Verhinderung von Grausamkeit ins Zentrum rückt, formuliert Judt: "Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst." Die Aufgabe der Linken bestehe zuallererst darin, historische Errungenschaften zu bewahren. Man wünscht sich natürlich ein weniger schmales und originelleres Programm, doch eine kleine Aufgabe ist es nicht, den Wohlfahrtsstaat, öffentliche Güter und Leistungen zu erhalten, denn darum geht es Judt.

Nicht jeder dieser Artikel hätte zwingend noch einmal auf Buchpapier gedruckt werden müssen. Das gilt etwa für manche Essays zum Nahostkonflikt oder zur amerikanischen Außenpolitik unter Georg W. Bush. Man kann Judts Positionen schwerlich immer teilen. Er macht interessante Punkte, schießt aber in seiner Kritik an Israel auch regelmäßig über das Ziel hinaus. Andere Texte wurden schlicht von neuen Problemlagen eingeholt.

Doch da sind eben auch zeitlose Rezensionen, die von seiner großen intellektuellen Kraft zeugen, da sind Stücke wie das Vorwort zur englischsprachigen Neuübersetzung von Albert Camus' "Die Pest"; ein Buch, das eben keine Lehren für seine Leser bereithalte. Oder sein Nachruf auf den polnischen Philosophen und Essayisten Leszek Kołakowski, den es sich zu lesen und wieder zu lesen lohnt.

© SZ vom 09.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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