Attac:"Leute, kriegt den Hintern hoch"

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"Ein anderes Europa ist möglich": Wie die globalisierungskritische und etwas angestaubte Bewegung Attac wieder in Schwung kommen will, 20 Jahre nach ihrer Gründung.

Von Jana Anzlinger, Kassel

Dem Bullen und dem Bären sind Ringe durch die Schnauzen getrieben worden. Angeleint an den Nasenringen ziehen zwei kleine Menschen die riesigen Tiere hinter sich her. Die Menschen müssen die Börse steuern und nicht umgekehrt, soll das Bild auf dem Banner sagen, das an der Hörsaalwand hängt. Davor sitzend fordert ein russischer Soziologe das Ende des Neoliberalismus, sodann ein griechischer Ökonom die Auflösung der EU. Willkommen bei Attac. Attac? Ja, es gibt sie noch, die Organisation, die in den Neunzigerjahren mal als globalisierungskritische Avantgarde galt, als Massenmobilisierer bei den Protesten gegen die G-8-Gipfel in Genua und Heiligendamm. Sie veranstaltet an der Uni Kassel einen Kongress. Motto: "Ein anderes Europa ist möglich." Bis auf die Banner erinnert aber wenig an den aufmüpfigen Haufen, der man einst war.

Heute macht Attac öfter wegen seines Rechtsstreits mit den Finanzbehörden von sich reden: Diese haben dem eingetragenen Verein die Gemeinnützigkeit aberkannt, weil er politische Ziele verfolgt. "Wir haben ein Problem. Wir müssen über die fehlende Gemeinnützigkeit sprechen und überlegen, wie wir wieder sichtbarer werden", sagt die Aktivistin Judith Amler. "Unsere Forderungen haben sich ja nicht erledigt." Die 35-Jährige aus Rosenheim ist im Koordinierungs-Kreis von Attac, in Kassel leitet sie einen Workshop zum Thema Rechtspopulismus und Antifeminismus. Das Kongressthema Europa habe sich die letzte Basisversammlung gewünscht, erzählt sie. Eine knifflige Sache, Attac ist da zwiegespalten: Die einen wollen die EU reformieren, die anderen eine neue transnationale Organisation aufbauen, und manche wollen zusammen mit den Nationalstaaten auch gleich deren Zusammenschlüsse abschaffen.

Es begann in Frankreich, in Deutschland aber lebt ein Drittel der Mitglieder

Viele der 650 Teilnehmer in Kassel sind schon seit der Gründung dabei. "Damals war es noch nicht so organisiert", sagt eine aus dem Sauerland Angereiste. Vor 20 Jahren gab es noch keine Dolmetscherkabinen, keinen Livestream. 1998 gründeten Aktivisten in Frankreich die "Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der Bürger", französisch abgekürzt als Attac. Es ging um die sogenannte Tobin-Steuer, damit sollten grenzüberschreitende Geldtransfers verteuert werden, um Spekulationen auf Währungsschwankungen zu erschweren. Linksradikal? Heute ist die Idee einer Finanztransaktionsteuer im Mainstream angekommen.

Die Aktivisten weiteten ihr Themenspektrum aus, auf verschiedene Verwerfungen infolge der Globalisierung, man wuchs an auf mehr als 90 000 Menschen in mindestens 40 Ländern - wobei Deutschland mit großem Abstand die meiste Masse ausmachte, hier lebt ein Drittel aller Mitglieder. Vereine wurden angemeldet, Gremien gegründet, Büros angemietet, Mitgliedsausweise gedruckt. Man ließ sich hinter Schreibtischen nieder. Die Finanzkrise 2007 brachte noch mal einen Wachstumsschub, doch seit 2014 stagniert die Mitgliederzahl. Der Schwung ist raus.

Es gibt den Versuch, an der Arbeitsweise von früher festzuhalten, vor allem am Konsensprinzip der Gründungstage. "Wenn jemand Bauchschmerzen hat, gibt es eben keine Entscheidung", sagt Judith Amler. Alles andere sei "Unterdrückung von Minderheiten". Nicht immer kommt Einstimmigkeit zustande, der Versuch einer Basisdemokratie lähmt. Andererseits ist es einer der Gründe, deretwegen Attac noch immer als Bewegung wahrgenommen wird. Zu Recht? "Das ist ein Etikettenschwindel", sagt Dieter Rucht, Soziologe und Mitgründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. "Attac ist keine Bewegung, es ist eine politische Organisation wie andere auch."

Rucht ist selbst Attac-Mitglied und saß jahrelang im wissenschaftlichen Beirat. Vor wenigen Monaten ist er aus dem Gremium ausgetreten. Warum? Der emeritierte Professor räuspert sich. Das sei eine längere Geschichte. Zusammengefasst: Unter den mehr als hundert Wissenschaftlern geben einige wenige den Ton an, deren politische Haltung Rucht nicht teilt. Hinzu komme, dass die Wortmeldungen des Gremiums nicht wissenschaftlich unterfüttert seien. Die Organisation Attac "ist nicht tot und geht auch nicht unter, aber sie dümpelt vor sich hin", sagt Rucht. "Es gibt keinen Mitgliederzuwachs, die Finanzen stagnieren, und die Präsenz aus der Frühphase ist geschwunden. Auch in anderen Ländern ist Attac im Rückgang."

Die meisten Aktiven sind inzwischen jenseits der 50, größtenteils Männer

Über diesen Rückgang wundert er sich kaum. Geldpolitik sei "ein hartes Brot", das Aktivisten kaum beeinflussen könnten. "Von außen kann man da nur kritisieren, aber nicht intervenieren." Außerdem fehle die finanzpolitische Expertise. Das sagt Rucht, obwohl sich in Kassel durchaus Experten treffen: Über "Alternativen zu Neoliberalismus und Austerität" diskutieren der ehemalige Chef des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, eine österreichische Aktivistin, ein in Paris lehrender Ökonom und ein hochrangiger Gewerkschafter. Hinterher stellen sieben Zuschauer und zwei Zuschauerinnen Fragen. Ihr Altersschnitt ist deutlich über 50.

In einer von Attac selbst in Auftrag gegebenen Studie schreibt die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Attac-Gremien seien "von einem hohen Durchschnittsalter und der Überzahl männlicher Aktiver geprägt". Das Ungleichgewicht bedeutet nicht nur, dass der Nachwuchs ausgeht. Wenn die Vielfalt fehlt, ist der Anspruch nicht erfüllt, für die gesellschaftliche Basis zu sprechen. Institutionalisierung, komplexe Themen, mangelnde Diversität: Kann Attac seine Probleme lösen? Der Protestforscher Rucht ist skeptisch, der verlorene Schwung sei kaum zurückzugewinnen, befürchtet er. "Der Aufruf 'Leute, kriegt den Hintern hoch' nützt nichts."

Die Aktivistin Amler verweist darauf, dass Attac zwar gerade nicht mit einer Großkampagne präsent sei, sich aber immer noch "an ganz vielen Stellen" engagiere. Auch sie vermisst Vielfalt. Sie hofft auf Quotenregelungen und neue Formen. "Um junge Leute anzulocken, organisieren wir andere Veranstaltungen, wo es kreativer zugeht als beim Kongress." Da gehe es um Themen, für die sich die Jugend interessiere, die Umwelt zum Beispiel. Wie derzeit im Hambacher Forst.

© SZ vom 08.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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