Armut in Deutschland:Die Zweidrittel-Demokratie

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Warum die Millionen Menschen, denen es schlecht geht, noch keine politische Macht darstellen - und warum das eine Gefahr für Deutschland ist.

Heribert Prantl

Deutschland ist kein armes Land, aber es gibt immer mehr Armut in Deutschland. Es ist dies aber eine ganz andere Armut als im 19. Jahrhundert: Es gibt keine arme Klasse, kein Proletariat mehr, das sich kämpferisch zusammenschließen könnte.

Die Armen von heute verbindet zwar der soziale Status, aber nicht das Milieu.

Den Armen von heute fehlt das Sprachrohr, das einst für die Arbeiterklasse die Gewerkschaft war; ihnen fehlen der Stolz, das Selbstbewusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl; jeder ist für sich allein - relativ arm dran.

Armut heute hat viele Gesichter:

Da ist der arbeitslose Akademiker; da ist der Gelegenheitsarbeiter oder der wegrationalisierte Facharbeiter oder die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft;

da sind die schon immer zu kurz Gekommenen am Rand der Gesellschaft; da ist der Diplomingenieur, dem bescheinigt wurde, zu alt zu sein und der nun als Langzeitarbeitsloser auf die Armutsgrenze zurückgefallen ist; da ist die Supermarkt-Kassierin auf Stundenbasis;

da der überflüssig gewordene Bankangestellte, der sein Haus verloren hat und nun vom Arbeitslosengeld II lebt; da sind die zweihunderttausend geduldeten Ausländer, die nicht arbeiten dürfen und in einem rundum ungesicherten Status leben müssen;

da sind Hunderttausende, ja Millionen der abgehängten Ostdeutschen, die nach der Wende den Weg in die neue Gesellschaft nicht gefunden haben; und da sind die Einwandererkinder, die nicht aus ihrem Ghetto herauskommen.

Diese relativ Armen haben wenig gemeinsam. Armut ist, wie gesagt, nicht mehr milieubildend - deshalb hat sie sich bisher nicht in eine politische Bewegung übersetzt.

Massenarbeitslosigkeit hat die Menschen kleinlaut und unsicher gemacht; sie nimmt ihnen den Stolz, den die Armen damals hatten, als sie noch Proletarier hießen und an Marx und Engels glaubten.

Damals riefen sie selbstbewusst den Klassenkampf aus, gründeten Gewerkschaften und Sozialdemokratie; oder sie schlossen sich, wenn sie kirchentreu waren, angeführt vom Gesellenvater Adolph Kolping und dem Mainzer Bischof Ketteler zu einem Bündnis zusammen, um sich so gegen die demoralisierenden Auswirkungen des Kapitalismus zu wappnen.

Das war einmal.

Die einzige Partei, welche die neuen Armen heutzutage bilden, ist die Partei der Nichtwähler; sie wird immer größer, hat aber keine politische Kraft.

Es ist zu befürchten, dass sie exakt deswegen destruktive Energie entwickelt - weil nämlich Demokratie nicht mehr gut funktionieren kann, wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft nicht mehr dabei mitmacht. Eine Zwei-Drittel Demokratie ist eine Gefahr für den inneren Frieden.

Arbeitskraft ist austauschbar - global

Wenn heute der in alten Liedern besungene "Mann der Arbeit aufgewacht" ist, erkennt er nicht mehr seine Macht, sondern seine Ohnmacht; und es beschleicht ihn das schlimme Gefühl, dass seine Emanzipationsgeschichte nun Geschichte wird:

Sie handelt davon, dass der arbeitende Mensch, der in ferner Vergangenheit nur Sache war, dann zur Person aufstieg und durch das Arbeitsrecht zum Menschen wurde, seinen errungenen Status nicht mehr halten kann.

Arbeit hat ihre Kraft und Macht eingebüßt, Arbeitnehmer gibt es fast überall im Überfluss; Arbeitskraft ist nicht mehr nur lokal, sondern global austauschbar.

Den alten Gegensatz von Kapital und Arbeit, der das Industriezeitalter gekennzeichnet hat, gibt es immer weniger, weil es immer weniger klassische, auf Herstellung von Gütern ausgerichtete Arbeit gibt.

Wie eine Arbeitsgesellschaft der Zukunft aussehen könnte?

Ein Blick in die Kindergärten, Schulen, Altersheime und Krankenhäuser kann eine Vorstellung davon geben; dort existiert Arbeit in Hülle und Fülle - Arbeit freilich, die derzeit nicht finanzierbar zu sein scheint.

Politik kann nicht mehr gestalten? Das ist Unfug.

Die Gestaltung einer neuen Arbeitsgesellschaft ist eine gewaltige Aufgabe.

© SZ vom 18.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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