Armenien:Land der Träume

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Die "samtene Revolution" hat den Anführer der Proteste zum Regierungschef gemacht. Kann er das Land unabhängig von Russland führen?

Von Julian Hans

Am vergangenen Freitag war das Gefühl des Frühlings wieder zu spüren in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Noch einmal versammelten sich Hunderttausende auf dem Platz der Republik, so wie in jenen Wochen im April, als eine Protestwelle den langjährigen Präsidenten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zwang. Die Armenier waren der korrupten Eliten schon lange leid gewesen, die die Wirtschaft des kleinen Landes mit knapp drei Millionen Einwohnern im Südkaukasus unter sich aufteilten. Aber der Auslöser, der die Menschen auf die Straße trieb, war die Frechheit, mit der sie belogen wurden: Vor der Verfassungsreform hatte Sargsjan versprochen, nicht noch einmal für ein Amt an der Spitze des Staates zu kandidieren. Doch dann wollte er sich von seiner Partei zum Regierungschef ernennen lassen, ausgestattet mit neuen Vollmachten. Das ließ ihm das armenische Volk nicht durchgehen.

Und so sprach am Freitag Nikol Paschinjan auf dem Platz der Republik als Premierminister und nicht mehr als Protestführer. Seit 100 Tagen lenkt der 42-Jährige das Land mit einer Übergangsregierung, diese Woche empfängt er Staatsgast Angela Merkel. Die Korruption sei Geschichte, verkündete er selbstbewusst seine erste Bilanz. Das bedeute nicht, dass es keinen einzigen bestechlichen Beamten mehr gebe in Armenien. Aber: "In der Regierung gibt es keine korrumpierten Personen mehr, das garantiere ich persönlich."

Noch vor einem halben Jahr war Paschinjan eine politische Randfigur gewesen. Sein Mandat im Parlament erhielt er als Abgeordneter eines Bündnisses von Splitterparteien, die zusammen auf neun von insgesamt 105 Sitzen kamen. Dann setzte er sich an die Spitze des Protestes und führte Demonstrationen durch das ganze Land. Mit Rucksack, Tarnfleck-Hosen und Baseball-Mütze wurde er zu einer Ikone des Widerstands, die rechte Hand verbunden, nachdem er bei einer Rangelei mit Polizisten in Stacheldraht gefasst hatte. Seine charismatischen Reden waren ein wilkommener Kontrast zu Sargsjans Auftritten, der keinen Dialog mit seinem Volk pflegte und bei öffentlichen Anlässen monotone Ansprachen hielt.

Die Begeisterung für Paschinjan ist nach wie vor gewaltig, das zeigte nicht nur der volle Platz 100 Tage nach der "samtenen Revolution". In Umfragen drücken etwa 80 Prozent der Armenier ihre Unterstützung für den Reformer aus. Konkrete Ergebnisse hat seine Regierung nach den ersten drei Monaten gleichwohl nicht besonders viele vorzuweisen. Das ist wenig überraschend, zumal Paschinjan keine Partei hinter sich hatte und keine politischen Strukturen, auf die er zurückgreifen konnte. Die musste er erst aufbauen, insofern kann die Bildung einer arbeitsfähigen Übergangsregierung schon als ein erster Erfolg gewertet werden. Die Republikanische Partei Sargsjans, die zuvor nicht nur im Parlament, sondern auch in den Regionen die Mehrheit hielt, wurde zurückgedrängt, der Bürgermeister von Eriwan gab seinen Posten auf. Aber ein Datum für die versprochenen Wahlen, welche die neuen Machtverhältnisse auch formell abbilden würden, ist nach wie vor nicht gefunden.

Der Ausgleich mit Russland ist eine Frage des Überlebens

Dass die Korruption zurückgegangen sei, ist bislang vor allem eine gefühlte Wahrheit, für Statistiken ist es noch zu früh. Die Regierung berichtet von einem deutlichen Rückgang der Schattenwirtschaft; die Steuereinnahmen seien in den vergangenen zwei Monaten um 20 Prozent gestiegen. Große Hoffnungen setzt das Land in die armenische Diaspora, die seit dem Genozid vor mehr als hundert Jahren über die ganze Welt verstreut lebt, mit Zentren in den USA und Russland sowie in Frankreich und Libanon. Sie sollen in die Heimat der Vorfahren investieren, dank Paschinjan ist Armenien auch unter den Auslands-Armeniern wieder gefragt.

Ein charismatischer Anführer, der sich die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen schreibt und die verfilzte Elite vertreibt - das hat es im Südkaukasus schon einmal gegeben. Im Nachbarland Georgien hatte Michail Saakaschwili in der "Rosenrevolution" 2003 Eduard Schewardnadse gestürzt, den georgischen Präsidenten und ehemaligen Außenminister der Sowjetunion.

Die Erfolge, die Saakaschwili in den folgenden Jahren bei der Bekämpfung der Korruption und der Reform der Verwaltung erzielte, machte Georgien für einige Zeit zu einem Vorbild für den ganzen postsowjetischen Raum. Innerhalb von zehn Jahren vervierfachte sich das Bruttoinlandsprodukt trotz internationaler Finanzkrise und dem Fünf-Tage-Krieg mit Russland um Südossetien und Abchasien im Jahr 2008. Allerdings entwickelte Saakaschwili selbst mehr und mehr autoritäre Züge. Seit seinem Rücktritt im Jahr 2013 konnte die neue Regierung zwar die Exzesse beenden und das vergiftete Verhältnis mit Russland wieder etwas verbessern, aber eine neue Erfolgsgeschichte konnte sie nicht entwickeln.

Der armenische Revolutionär Paschinjan hat offensichtlich aus den Erfahrungen des Nachbarlandes wie auch der Ukraine gelernt und von Anfang an antirussische Rhetorik vermieden. Schon als die Machtfrage auf dem Höhepunkt des Protestes noch nicht entschieden war, suchte er Kontakt zu Moskau und traf sich mit dem russischen Botschafter in Eriwan.

Die geografische Lage lässt Armenien gar keine andere Wahl: Von den vier Ländern, von denen es umschlossen wird, sind die Türkei und Aserbaidschan Erzfeinde. Nur die Grenzen zu Georgien und nach Iran sind offen; neue US-Sanktionen gegen Iran würden auch Armenien treffen. Eriwan ist zudem auf Moskau als Sicherheitsgarant gegenüber dem - wiederum von Moskau - hochgerüsteten Nachbarn Aserbaidschan angewiesen. Mit dem befindet es sich seit dem Jahr 1994 im latenten Kriegszustand um die Enklave Berg-Karabach.

© SZ vom 22.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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