Arme Länder im 21. Jahrhundert:Das verweigerte Erbe

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Auch nach dem 11. September gilt: Der reiche Norden wird seiner Verantwortung in den einstigen Kolonien nicht gerecht. Sechster und letzter Teil der SZ-Serie "Die neue Weltordnung".

Arne Perras

(SZ vom 9.7.2003) - Man schreibt das Jahr 1885, und Graf Münster, der deutsche Botschafter in London, notiert: "Wenn es Afrika, dieses dunkle Land, nicht geben würde, hätten wir Diplomaten wenig zu tun." Der Wettlauf um koloniale Gebiete entlang des Äquators ist voll entbrannt.

Alle hamstern sie Land, in Afrika, in Asien und im Pazifik. Sie sichern sich steinige Wüsten und moskitoverseuchte Sümpfe - wer weiß, wozu es einmal gut ist. Hauptsache, man besitzt Kolonien. Wer sich als Großmacht fühlen will, braucht ein eigenes Reich in Übersee.

Wo Europäer und später auch die Amerikaner keine direkte Herrschaft ausüben, wie zum Beispiel in Lateinamerika, dort suchen sie ihren Einfluss auf andere Weise zu mehren. Das Interesse des Nordens an den Regionen des Südens ist groß am Ende des 19.Jahrhunderts - und groß ist auch der Schaden, den das koloniale Fieber in den unterjochten Gebieten anrichtet.

Ein Jahrhundert später fällt Europa ins andere Extrem: Wegschauen lautet die Devise, der Süden ist von der politischen Agenda weitgehend verschwunden. Und selbst ein Genozid, der im Osten Afrikas fast eine Million Menschen das Leben kostet, kann den reichen Norden nicht aus seiner Apathie reißen. Die Katastrophe von Ruanda 1994, sie markiert den Tiefpunkt in den postkolonialen Beziehungen zwischen Nord und Süd, so viel Gleichgültigkeit war nie.

Und heute? Hat der Kampf gegen den Terror und der Irak-Krieg wieder Bewegung gebracht in das Verhältnis zwischen Arm und Reich? Als die Amerikaner Saddam Hussein aus Bagdad verjagten, meldete sich Südafrikas Präsident Thabo Mbeki mahnend zu Wort.

Nicht Washington galt sein Appell, sondern den Kollegen auf dem eigenen Kontinent. Afrikas Regierungen müssten sich künftig gut benehmen, ansonsten drohe ihnen ein ähnliches Schicksal wie dem gestürzten Diktator in Bagdad, so lautete Mbekis Warnung.

Der erste, der nun tatsächlich stärkeren Druck der Amerikaner zu spüren bekommt, ist der westafrikanische Warlord-Präsident Charles Taylor, den George Bush ins Exil drängen will. Auch eine von den USA geführte Friedenstruppe ist für Liberia im Gespräch. Amerikanische Marines nach Monrovia, französische Fremdenlegionäre in der Elfenbeinküste und im Kongo, britische Elitetruppen in Sierra Leone.

"All dies sind Hinweise auf einen neuen begrenzten Interventionismus", sagt der Politologe Cord Jakobeit von der Universität Hamburg. Eine radikale Neuordnung des Nord-Süd-Verhältnisses erwartet der Experte für internationale Beziehungen deshalb aber nicht. "Die Ziele der Aktionen sind sehr begrenzt", sagt Jakobeit.

Im Kongo etwa geht es nur um die Stabilisierung einer Provinzstadt, und die französisch geführte Eingreiftruppe soll das Kommando im September schon an eine größere Blauhelmtruppe übergeben. Eine Befriedung des gesamten Kongos mit militärischen Mitteln steht nicht auf der Agenda der reichen Staaten.

In Sierra Leone haben einige wenige Elitesoldaten bei der Entwaffnung von Milizen geholfen, und in der Elfenbeinküste schützen französische Soldaten vor allem ihre Landsleute und deren wirtschaftliche Interessen. Es sind keine großen Besatzungstruppen wie im Irak, die in den armen Staaten des Südens intervenieren. Die militärischen Eingriffe dienen nicht dem Ziel, einen Staat von Grund auf neu zu ordnen. Auch mit den alten Mustern des Kolonialismus hat der neue Interventionismus wenig zu tun.

Denn im Kolonialismus ging es vor allem um eines: Herrschaft. Die heutigen, eher zaghaften Versuche, instabile Regionen vor dem totalen Kollaps zu bewahren, passen nicht in diese Kategorie. "Für massive Eingriffe sind diese Länder für den Norden nicht wichtig genug", sagt Jakobeit.

Nach Einschätzung des Entwicklungsexperten Franz Nuscheler von der Universität Duisburg ist durch den 11. September in den Nord-Süd-Beziehungen zwar manches in Bewegung geraten, Doch eine grundsätzliche Wende, die helfen könnte, die Kluft zwischen den armen und reichen Regionen zu schließen, kann er nicht erkennen.

Die Terror-Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon hätten in der industrialisierten Welt ein "Angstgemisch" erzeugt, das zumindest die Debatte über Risiken der globalen Armut neu belebt habe. Zwar gibt es nach Ansicht Nuschelers keine einfache Gleichung: Armut erzeugt Terror.

Doch der zunehmende Staatszerfall schaffe nicht nur schwer kontrollierbare Räume, in denen radikale Gruppen wie al-Qaida operieren und sich organisieren könnten. Die Chefideologen der Terroristen missbrauchten zudem die zunehmende Armut als Rechtfertigung für ihre Anschläge.

So hat der neue Terrorismus wohl auch die Entscheidung der reichen Länder beflügelt, bei der UN-Konferenz in Monterrey 2002 eine schrittweise Anhebung der Entwicklungshilfe zu beschließen, die in den neunziger Jahren auf einen historischen Tiefpunkt gesunken war.

1970 hatten sich die reichen Länder darauf verständigt, mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben. Davon sind die Industrienationen noch immer weit entfernt, der deutsche Anteil zum Beispiel liegt bei nur 0,27 Prozent.

Um der Verbreitung radikaler Ideologien vorzubeugen, halten es Entwicklungsexperten für unerlässlich, mehr Geld in die Bildungssysteme armer Staaten zu investieren - ein Bereich, der unter den Kürzungen der neunziger Jahre in besonderem Maße gelitten hat. Die Dominanz von Koran-Schulen in einigen Teilen Asiens hat auch damit zu tun, dass das staatliche Schulsystem so schlecht ist.

Der Verfall ganzer Staaten bereitet auch dem US-Geheimdienst CIA zunehmend Sorgen. "Wir denken alle, dass wir immun dagegen sind. Aber irgendwann wird irgendjemand dafür verantwortlich sein müssen" - diese Einschätzung äußerte CIA-Chef George Tenet schon im Jahr 2001.

Sie trug dazu bei, dass die US-Regierung zum Beispiel eine neue Initiative gegen Aids in der armen Welt gestartet hat. Bush will in den kommenden fünf Jahren 15 Milliarden Dollar zum Kampf gegen HIV bereitstellen. Europa indes tut sich immer noch schwer, wenigstens eine Milliarde Dollar jährlich für den globalen Gesundheitsfonds gegen Aids, Malaria und Tuberkulose auszugeben.

Trotz einzelner positiver Schritte ist das Gesamtbild weiterhin bedrückend. Die Gesundheitsdienste in den armen Ländern werden immer noch von den Geberländern vernachlässigt. Für eine bessere medizinische Versorgung der Ärmsten geben die reichen Länder nur 0,011 Prozent des Bruttosozialproduktes aus.

Die Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnen vor, dass dieser Beitrag verzehnfacht werden müsste, um den ökonomischen Verfall dieser Staaten aufzuhalten. So erzielen Länder, die stark von Malaria betroffen sind, ein Wirtschaftswachstum, das nach Berechnungen der WHO etwa 1,3 Prozent niedriger liegt als Staaten, in denen die Krankheit nicht auftritt.

Düstere Aussichten

Die Umwälzungen nach dem 11. September haben bislang nur wenig dazu beigetragen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Die Aussichten bleiben düster, wie auch der neueste Bericht des UN-Entwicklungsprogramms UNDP belegt: Das international vereinbarte Ziel, die Zahl der Armen bis zum Jahr 2015 zu halbieren, wäre in 59 Ländern nur dann noch erreichbar, wenn sich der Norden zu einer Verdopplung seiner Hilfe durchränge. Doch dies scheint angesichts der Haushaltsprobleme nicht nur in Deutschland unwahrscheinlich.

"Wir erleben immer noch eine riesige Kluft zwischen der Hilfsrhetorik einerseits und der realen Politik andererseits", sagt Nuscheler. Besonders auffällig sei dies in der Landwirtschaft. Denn der reiche Norden gibt mit Agrarsubventionen in Höhe von 350 Milliarden Dollar jährlich siebenmal so viel aus wie für Entwicklungshilfe.

Der Agrar-Protektionismus nimmt Entwicklungsländern die Exportmöglichkeiten und schmälert so die Wachstumschancen für viele Ökonomien in Asien, Afrika und Lateinamerika. Zugleich ist die Förderung für die Bauern der Dritten Welt - genauso wie der Bildungs- und Gesundheitssektor - erheblich geschrumpft. Die Weltbank verspricht Besserung - doch die Ärmsten hatten von der Ankündigung bisher noch nichts.

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