Ammoniumnitrat:Stoff für Katastrophen

Lesezeit: 4 min

2015 verwüstete eine Explosion von Ammoniumnitrat den Hafen der chinesischen Stadt Tianjin samt der dort abgestellten Neuwagen. (Foto: Ng Han Guan/AP)

Das Salz aus Salpetersäure und Ammoniak wird als Düngemittel verwendet - kann aber gewaltige Explosionen hervorrufen.

Von Xaver Bitz

Die Bilder aus Beirut erinnern an die Explosion einer Bombe, einer sehr großen Bombe. Stunden später heißt es, dass etwa 2700 Tonnen Ammoniumnitrat detoniert seien. Eine Chemikalie, die auch in Deutschland zur Herstellung von Düngemittel verwendet wird. Und die immer wieder schreckliche Unfälle mit Hunderten Toten und noch mehr Verletzten zur Folge hatte. Die aber Menschen auch nutzen, um möglichst viel Leid zu verursachen.

Die farblosen Kristalle, die so viel Zerstörung bringen können, sehen ganz harmlos aus. Es handelt sich dabei "um ein Salz, das aus Salpetersäure und Ammoniak" gebildet wird, wie Andreas Battenberg, Chemiker an der Technischen Universität München, erklärt. Da das Ammoniumnitrat viel Stickstoff enthält, wird es als Komponente in Düngemitteln genutzt, um den Stickstoffhunger der Pflanzen zu stillen. Der Stoff ist explosionsfähig, wenn man ihn mit einer "externen Zündung" zur Detonation bringt.

Ist die Chemikalie erst einmal heiß, lässt sich die Reaktion nicht mehr stoppen

"Das Fatale daran ist", sagt Battenberg, dass das Molekül bei der Explosion in Wasser, Sauerstoff und Stickstoff zerfällt und dabei sehr viel Gas freisetzte. Das bewirke eine "enorme Explosionswucht". Es reicht nicht, dafür einfach nur ein Feuerzeug hinzuhalten oder die Säcke mit dem Stoff zu lange in der Sonne stehen zu lassen. Battenberg zufolge braucht es eine "Initialzündung". Er verweist auf die in den Videos aus Beirut zu sehenden Rauchwolken, die auf einen bestehenden Brand in dem Lager hindeuten. Man müsse das Nitrat auf mehr als 300 Grad erhitzen, "um die Reaktion zu starten". Dann allerdings könne man das Unglück nicht mehr stoppen. "Wenn das einmal reagiert, wird so viel Energie frei, dass rundherum alles andere auch zum Reagieren gebracht wird." Ein Ölfass etwa brenne einfach ab, bei Ammoniumnitrat gebe es eine Kettenreaktion.

Dünge-Alternativen zum stickstoffreichen Ammoniumnitrat gibt es zwar, beispielsweise in Form von Harnstoff. Doch bei diesem sei der Stickstoffanteil "nicht so schnell verfügbar", weswegen Harnstoffe auch mit Nitraten gemischt werden. Darum bleibt Ammoniumnitrat eine wichtige Düngerkomponente. Aufgrund der Explosionsgefahr darf es in Deutschland Battenberg zufolge nur in Mischung mit anderen Substanzen, etwa Kalk, verwendet werden, damit es nicht von sich aus explodieren kann.

Mit Ammoniumnitrat gab es schon einige Unfälle und große Explosionen. Am 21. September 1921 etwa explodierte in Ludwigshafen am Rhein ein Gebäude des Oppauer Stickstoffwerkes, das zu BASF gehörte. Dabei sollte wie üblich eine festgewordene Ammoniumsulfat-Ammoniumnitrat-Mischung durch Dynamit aufgelockert werden. Aufgrund einer Änderung im Produktionsablauf kam es offenbar zu einer Anreicherung von Ammoniumnitrat im Produkt. Durch die eigentlich zur Lockerung gedachten kleineren Dynamit-Explosionen kam es zu zwei gewaltigen Ammoniumnitrat-Explosionen, wobei etwa 400 von dort gelagerten 4500 Tonnen Düngemittel explodierten. 559 Personen starben, 1977 wurden verletzt, vom Gebäude, in dem das Düngemittel lagerte, blieb nur noch ein Krater übrig.

Zu einer noch schlimmeren Katastrophe kam es am 16. April 1947 in Texas City in den USA, als im Abstand von 15 Stunden die beiden im Hafen liegenden Schiffe Grandcamp und High Flyer explodierten. An Bord der Grandcamp befanden sich 2300 Tonnen Ammoniumnitrat, bei der High Flyer waren es 900 Tonnen und dazu noch 1800 Tonnen Schwefel.

Ursache des Unglückes, bei dem 581 Menschen starben und sich mehr als 5000 verletzten, war ein Feuer, was am Morgen auf der Grandcamp ausgebrochen war. Die Mannschaft versuchte, mit Wasser zu löschen - was fatal war: Es bildete sich heißer Wasserdampf, der in Reaktion mit dem Ammoniumnitrat noch mehr Hitze erzeugte.

Gegen 9.12 Uhr explodierte das im Hafen liegende Schiff schließlich. Die Druckwelle zerstörte die Docks, naheliegende Industrieanlagen und Teile der Stadt. Noch in 60 Kilometern Entfernung gingen Scheiben zu Bruch. Das mehr als 6000 Tonnen schwere Schiff wurde in die Luft geschleudert. Auf der in 200 Meter Entfernung liegenden High Flyer brach ebenfalls ein Feuer aus. Die Mannschaft bekämpfte es, jedoch ohne Erfolg. Auch Versuche, das Schiff aus dem Hafen zu manövrieren, schlugen fehl. 15 Stunden nach der verheerenden Explosion der Grandcamp explodierte auch das zweite Schiff - zwei weitere Menschen kamen ums Leben.

Die bisher jüngste Katastrophe mit Ammoniumnitrat passierte im chinesischen Tianjin. In der Hafenstadt brach am 12. August 2015 in einem Lagerhaus ein Feuer aus. Eine knappe Stunde lang kämpften Hunderte Feuerwehrleute gegen den Brand, doch vergeblich. Innerhalb von etwa dreißig Sekunden kam es zunächst zu einer kleineren, danach zu einer gewaltigen Explosion. 173 Menschen starben, fast 800 wurden verletzt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass auf dem Gelände 800 Tonnen Ammoniumnitrat und dazu 500 Tonnen Kalium- und Natriumnitrat lagerten, allesamt hochexplosiv. Eine Untersuchung kam zu dem Schluss, dass das Feuer durch das Austrocknen von Schießbaumwolle verursacht worden war, weil nicht genug Feuchtigkeitsspender vorhanden war.

Doch es gab auch Menschen, die die Zerstörungskraft von Ammoniumnitrat als Mittel für ihre tödlichen, meist terroristischen Zwecke nutzten. Mit der bekannteste ist der "Oklahoma Bomber". Der Mann parkte am 19. April 1995 einen mit Ammoniumnitrat und Nitromethan beladenen Van vor dem Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City. Der Van explodierte und zerstörte das achtstöckige Gebäude vollständig. 168 Menschen starben, darunter auch 19 Kinder, die sich zum Zeitpunkt der Explosion morgens in dem Kindergarten des Gebäudes befanden. 800 Menschen wurden verletzt, 300 weitere Gebäude in der Stadt wurden beschädigt.

Auch der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik nutzte Ammoniumnitrat um einen Teil seines menschenverachtenden Planes umzusetzen. Er zündete am 22. Juli 2011 um 15.25 Uhr in Oslo vor dem Regierungsgebäude des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg eine selbstgebaute Autobombe. Die Wucht der Explosion tötete acht Menschen, mehrere Gebäude wurden beschädigt. Breivik fuhr daraufhin mit einem anderen Auto zur 30 Kilometer entfernten Insel Utøya und erschoss 69 Menschen.

© SZ vom 06.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: