Aktuelles Lexikon:Krawall

Er ist antiautoritär, strukturlos - und die Mutter der Revolution.

Von Meredith Haaf

Schon vor 100 Jahren war es für das Bürgertum nicht immer einfach, zwischen Revolution und Krawall zu unterscheiden. Das jedenfalls legen Ludwig Thomas "Lustige Geschichten" nahe. In "Krawall", über einen kleinen Bauernaufstand gegen preußische Regeln im bayerischen Dorf Dürnbuch, heißt es: "Eine solche Auflehnung hat man damals überall gemerkt, heimlich und offen, und eigentlich haben wir Dürnbucher uns darüber gefreut, wenn es nur keine Konsequenzen gehabt hätte. Unter gebildeten Leuten hat das keine Gefahr. Man sagt seine Meinung, oder man denkt sich seinen Teil, und vergisst aber nicht den Anstand." Thoma hatte erkannt: Krawall muss man nötig haben. Er hat etwas mit Sprach- und Machtlosigkeit zu tun. Die Wurzel des Begriffs, mit dem unorganisierte, strukturlose, aber eindeutig anti-autoritäre Aktionen bezeichnet werden, wie sie sich in den vergangenen Wochen in Stuttgart und nun auch Frankfurt ereigneten, liegt möglicherweise im Mittellateinischen chrawallium, dem Wort für Straßenlärm. Obwohl sich im 19. Jahrhundert die Kunst des Streiks und organisierten Protests entwickelte, ist der Übergang zum Krawall noch immer fließend, wie auch die aktuellen Ereignisse in den USA zeigen. Die Revolution wiederum ist somit letztlich die institutionalisierte Tochter des Krawalls.

© SZ vom 22.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: