Akteneinsicht:"Meine erste Aussage war falsch, sagt Sylvia"

Lesezeit: 6 min

Vera Brühnes Tochter widerruft ihre schweren Beschuldigungen gegen die eigene Mutter - Zeugen erhärten die erste Darstellung. Bericht aus der SZ vom 15. Mai 1962.

Von Wolfgang Wehner

(Foto: N/A)

Diese Reportage erschien 1962 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung . Der Text wurde in der Rechtschreibung seiner Entstehungszeit belassen und gekürzt.

Es begann bereits am Sonntagnachmittag. Plötzlich, wie auf Verabredung, wurde die Redaktion der SZ mit Anrufen bestürmt. "Wir haben gehört, daß sich Vera Brühne in der Strafanstalt Stadelheim das Leben genommen hat. Können Sie uns Einzelheiten sagen?" So und ähnlich fragten die Anrufer. Wir wußten von nichts. Wir störten den Leiter der Strafanstalt beim Nachmittagskaffee. "Alles Unsinn", sagte Dr. Weber. Bald darauf zeigte sich der Ursprung des Gerüchtes. Der Gefängnisarzt hatte Vera Brühne am Samstagabend in ihrer Zelle besucht, weil er in einer Zeitung die fette Rubrik "Nervenzusammenbruch" auf Frau Brühne bezogen hatte. Gemeint war jedoch eine Zeugin. Immerhin, die ungewöhnliche Anteilnahme der Öffentlichkeit am Mordprozeß Praun schien ihrem Höhepunkt entgegenzugehen.

Der große Lichthof des Justizpalastes glich einem riesigen Amphitheater

Vera Brühne lächelte wie immer den Polizeibeamten des Vorführdienstes zu, als sie in den Justizpalast gebracht wurde. Dabei hätte sie gerade an diesem regenverhangenen Montagmorgen allen Grund haben müssen, sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Denn an der Spitze der Zeugenliste dieses Verhandlungstages stand der Name Sylvia Cosiolkofsky. Ihre Tochter. Die 20jährige Studentin war es, die bisher als Kronzeugin der Anklage gegolten hatte, aus ihrer Aussage beabsichtigte Staatsanwalt Karl Rüth das stärkste Glied der Beweiskette zu schmieden, mit der er - wenn der Schuldbeweis gelingt - die beiden Angeklagten lebenslang im Zuchthaus halten könnte. Sylvia hatte im November 1961 in zwei Protokollen ausführlich geschildert, wie ihre Mutter ihr den Mord an Dr. Otto Praun und Elfriede Kloo "gebeichtet" hatte. Warum also lächelte Vera Brühne? Wußte sie bereits, was sich wenige Eingeweihte seit Tagen im Justizpalast zuflüsterten: daß die Kronzeugin ihr Geständnis widerrufen würde?

Hunderte von Menschen, die sich in strömendem Regen schon Stunden vor Verhandlungsbeginn vor den Toren des Justizpalastes drängten, wußten es jedenfalls nicht. Für sie war Sylvia Cossy noch die große Unbekannte in der Gleichung von Schuld und Unschuld. Sie drängten und rauften um günstige Positionen für einen kurzen Blick auf ein junges Mädchen, das offenbar das Schicksal seiner Mutter in unerfahrenen Händen hielt.

Der große Lichthof des Justizpalastes mit seinen Wandelgängen glich kurz vor neun Uhr einem riesigen Amphitheater, über dessen Rängen vorgereckte Menschenleiber hingen, den Blick starr auf das Portal des Schwurgerichtssaales geheftet. Der Justizwachtmeister war inzwischen einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Polizeibeamten, die an den bisherigen Verhandlungstagen mit Ruhe und Freundlichkeit den Verhandlungssaal vor der andrängenden Menge abzuschirmen gewußt hatten, wurden jetzt des Ansturms kaum noch Herr. Protokollführer und Justizangestellte, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Angehörige der Geschworenen, Freunde und Anverwandte dieses ganzen Personenkreises waren in den Sog der großen Neugier geraten.

Endlich, um 9.17 Uhr wurden die Angeklagten hereingeführt. Vera Brühne, hinter dem wehenden Talar ihres zuversichtlich lächelnden Verteidigers Dr. Franz Moser, ging schneller als sonst. Während sie sich bisher kaum einen koketten Blick in die Linsen der Kameras entgehen ließ, schien sie diesmal nicht schnell genug zur Anklagebank kommen zu können. Sichtlich fieberte sie einer Entscheidung entgegen, von der sie sich eine Wendung dieses Prozesses erhoffen mochte. Im Gerichtssaal angekommen, warf sie dem Mitangeklagten Hans Ferbach ein Grußwort zu. Auf Ferbachs Wangen zeigten sich rote Flecken der Erregung.

Das Gericht erscheint, die Angeklagten werden hinausgeführt. Hinter dem Richtertisch öffnet sich eine Tür, Sylvia Cossy betritt den Gerichtssaal. Kein Filmregisseur hätte sich diesen Auftritt wirkungsvoller ausdenken können. Ein hochgewachsenes Mädchen mit blauem Kopftuch und Sonnenbrille durchquert schnell den Saal, stellt sich vor das Zeugenpult, nimmt mit einer lässigen Bewegung Kopftuch und Sonnenbrille ab, streicht sich das volle, mittelblonde Haar zurecht, strafft sich und nickt, als wolle sie sagen: Von mir aus kann's losgehen, ich bin bereit. Ein salopper, betont forscher, ja, fast sportlicher Start. Sylvia Cossy trägt ein Kostüm vom gleichen Dunkelblau wie ihre Mutter. Aber dieser äußeren Ähnlichkeit gesellen sich andere in der inneren Haltung zu. Die Tochter Vera Brühnes kann schnippische Antworten geben, wie sie auch ihrer Mutter manchmal entschlüpfen. Sie ist nicht ohne Schlagfertigkeit, aber gerade darin wirkt sie unfertiger als die Angeklagte. Was bei ihrer Mutter als geschmeidige Eleganz zutage tritt, äußert sich bei der Tochter als kindlicher Trotz, der manchmal eine erschreckende innere Unsicherheit, ja Hilflosigkeit offenbart, die Sylvia schnell zu überspielen versucht, wenn sie sich selbst ihrer bewußt wird. Der erste beherrschende Eindruck: Ein halbes Kind, das sich um keinen Preis den Schneid abkaufen lassen will. Die tiefblauen Augen, von denen manche Beobachter sagen, sie wirkten kalt, wechseln schnell den Ausdruck: Einmal spricht aus ihnen die Bitte: So glaubt mir doch, ein anderes Mal verschließen sie sich in Abwehr.

Das Gericht ordnete einen Lokaltermin an, am 30. April 1962 in der Villa des Arztes in Pöcking am Starnberger See. Eine am Boden liegende Puppe soll den erschossenen Otto Praun darstellen. (Foto: dpa)

Bevor die Richter Sylvia Cossy anhörten, beschlossen sie, ihre Aussage auf Tonband aufzunehmen, um sie später den Angeklagten Vorspielen zu können, die der Strafprozeßordnung gemäß über den wesentlichen Inhalt der Aussagen unterrichtet werden müssen. Anderthalb Stunden später sollte sich allerdings herausstellen daß die Technik dem Gericht einen ärgerlichen Streich gespielt hatte. Nun endlich konnte die Vernehmung beginnen, auf die Hunderte mit Spannung warteten. Eindringliche Ermahnung des Vorsitzenden. Sie endet mit den Worten. "Ich glaube nicht, daß Ihr Gewissen es auf die Dauer ertragen würde, hier etwas Falsches gesagt zu haben." Sylvia verändert während dieser Ansprache ihre Haltung nicht. Jetzt die erste, entscheidende Frage: "Haben Sie ... die Wahrheit gesagt, als Sie erklärten, Ihre Mutter habe Ihnen gegenüber ein Geständnis abgelegt?"

Gelassen, fast nebensächlich fällt die Antwort in den totenstillen Gerichtssaal: "Meine damalige Aussage war falsch."

Ein Stöhnen geht durch die Reihen des Publikums. Die Sensation ist da. Die Erde bebt nicht, die Decke des Saales fällt nicht ein, nur einem Photoreporter fällt die Kamera zu Boden. Staatsanwalt Rüth, der soeben eine Kronzeugin verloren hat, lächelt leicht. Die Verteidiger sehen sich bedeutungsvoll in die Augen. Was wird das Gericht jetzt tun, fragte sich jeder.

Prasselnde und zischende Laute kamen aus der Tonbandanlage

Die Richter bleiben gelassen. Kein Zeichen der Überraschung, keine Äußerung des Ärgers, keine der Zustimmung. Das Gericht wechselt das Thema, erkundigt sich nach dem Verhältnis der Zeugin zu ihrer Mutter und kommt dann auf die Protokolle zu sprechen, die Sylvia Cossy am 8. November 1961 unterschrieben und damit ihre Mutter auf das schwerste belastet hat.

Eine Aufnahme aus dem Jahr 1980 von Vera Brühne. Sie war erst nach 18 Jahren Haft begnadigt worden. (Foto: Istvan Bajzat/dpa)

Es waren also die Nerven, so erfährt man nun, die angesichts der ständigen Fragen neugieriger Journalisten und endlich der Verhaftung ihrer Mutter die Belastungen nicht mehr ertrugen und so zerrüttet waren, daß Sylvia Cossy schließlich nicht mehr zwischen Wahrheit und Phantasie zu unterscheiden vermochte, hinging, ihre Mutter zu Unrecht denunzierte und sich ihres Unrechts gar nicht einmal mehr bewußt wurde.

Aber konnte eine solche Begründung ausreichen, um hinreichend zu erklären, warum ein junges Mädchen seine Mutter fast volle sieben Monate in Untersuchungshaft schmoren ließ, ohne auch nur das Geringste zu tun, um die eigene, doch angeblich unwahre Aussage zu korrigieren und damit Vera Brühne vielleicht, wenn nicht sicher, die Freiheit wiederzugeben?

"Sie haben in dieser Zeit keine Anstalten gemacht, diese Last von ihr zu nehmen und zu sagen: Das widerrufe ich?" Vielleicht, es wird freilich Sache des Gerichts und der Sachverständigen sein, darüber zu befinden, ist die Antwort, die Sylvia darauf gibt, ein Schlüssel zum Wesen dieser Zeugin: "Ich konnte mir mit Gewißheit ausrechnen, daß es so sein wird" (daß sie nämlich in der Hauptverhandlung die Wahrheit sagen werde). "Ich wußte es die ganze Zeit. Ich war auch nicht betrübt dadurch."

Urteilsverkündung in München am 4. Juni 1962: Das Bild zeigt Vera Brühne und den Mitangeklagte Johann Ferbach mit ihren Verteidigern. (Foto: DPA)

Als das Gericht nach eineinhalb Stunden die Vernehmung Sylvia Cossys vorläufig abschloß und eine Pause einlegte, schien die Zeugin von allen Prozeßteilnehmern die frischeste zu sein. Sofort, nachdem sie wieder im Zeugenzimmer verschwunden war, brandeten im Zuschauerraum und auf den Gängen des Justizpalastes erregte Diskussionen um Sylvias Aussage auf.

Nach der Pause wurden die Angeklagten wieder in den Schwurgerichtssaal gebracht. Unentwegt blickte Vera Brühne ihre Tochter an, die auf einem hölzernen Stuhl an der Längsseite des Saals Platz genommen hatte, von wo aus man einen weiten Überblick auf die Blumenbeete des Alten Botanischen Gartens hat. Der Vorsitzende ließ die Tonbandanlage anlaufen, um den Angeklagten Sylvias Aussage vorzuspielen. Prasselnde und zischende Laute kamen aus dem Apparat, Vera Brühne fuhr entsetzt zurück, Sylvia verbarg ihr Lachen hinter der vorgehaltenen Hand. Aus der erwarteten dramatischen Begegnung von Mutter und Tochter im Gerichtssaal war eine lächerliche Farce geworden.

Draußen auf dem Gang des Gerichtsgebäudes aber warten bereits die Zeugen Fred Ihrt und Nils von der Heyde. Sie erinnern sich genau an die Umstände, unter denen ihnen Sylvia von dem Verbrechen ihrer Mutter berichtete, das Vera Brühne ihr kurz vorher gebeichtet hatte. "Wir sind felsenfest davon überzeugt, daß Sylvia damals die Wahrheit sagte", erklären beide wie aus einem Mund.

Nils von der Heyde erzählte sie, ihre Mutter sei mit schwarzem Hut und dunklem Schleier mit dem neuen Volkswagen nach Pöcking gefahren, mit Ferbach gemeinsam an die Türe von Prauns Villa gekommen, aber sie sei, weil sie etwas vergessen habe, dann umgekehrt. Ferbach sei ins Haus hineingelassen worden und habe Elfriede Kloo ermordet. Praun kam kurz danach, Ferbach habe den ersten Schuß abgegeben, Praun sei zusammengebrochen, habe gerufen: "Was wollen Sie von mir, wer sind Sie?" Nun habe Ferbach den zweiten Schuß abgegeben, habe das Haus verlassen, und dann seien Vera Brühne und Ferbach zurückgefahren.

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: