Afghanistan:Vergebliche Friedensangebote

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Misstrauen überall: Ein afghanischer Soldat kontrolliert einen Mann am Checkpoint an der Straße von Kabul nach Ghasni. Taliban hatten die Stadt vergangene Woche überrannt. (Foto: Mohammad Ismail/Reuters)

Präsident Ghani will eine Waffenruhe mit den Taliban erreichen, doch die haben kein Interesse. Verhandeln wollen die Islamisten nur mit den USA - nach Berichten gab es sogar bereits ein Treffen.

Von Tomas Avenarius, München

Raketen, die mitten in der Hauptstadt einschlagen, das ist selbst in Afghanistan kein Alltag, jedenfalls in den letzten Jahren nicht mehr. Doch nun schlugen am Dienstag gleich mehrere Geschosse lokalen Medien zufolge im Diplomatenviertel Kabuls ein, Staatspräsident Aschraf Ghani hielt da gerade eine Rede zum Beginn des islamischen Opferfestes Eid al-Adha. "Die Gruppen, die weiter Gewalt ausüben, auch wenn sie Raketen abfeuern, können die Entwicklung Afghanistans nicht aufhalten", sagte Ghani mit einem der Lage angemessenen, leicht aufgeschreckten Pathos - während seiner Ansprache sollen Detonationen zu hören gewesen sein. Den Optimismus werden ihm die wenigsten Afghanen abgenommen haben: Schließlich hatte der Staatschef den islamistischen Taliban gerade eine dreimonatige Waffenruhe angeboten.

Dass die Hauptstadt mit Raketen beschossen wird, von den Taliban oder anderen Milizen, erinnert die Kabuler an die übelsten Zeiten des Bürgerkriegs. Zu Beginn der Neunzigerjahre hatten die verfeindeten Warlords Kabul im Kampf um die Macht in Trümmer gelegt, auch mit Raketen. Zuvor war 1989 die Rote Armee nach fast zehn Jahren sowjetischer Besatzung und Gräueltaten abgezogen; Afghanistans Kriegsherren richteten im Geraufe um die Macht die Waffen dann nicht nur auf die afghanische Armee, sondern bald auch aufeinander. Mit dem Kampf um Kabul inszenierten die Milizenführer den Höhepunkt ihres bizarren Bruderkriegs.

Heute, weit mehr als zwanzig Jahre später, ist Frieden in dem zentralasiatischen Land noch immer in sehr, sehr weiter Ferne. Mit den Taliban, al-Qaida und nun auch noch dem "Islamischen Staat" (IS) sind brutale Kräfte neu dazugekommen, und in Kabul agiert unter Präsident Ghani eine zerstrittene Regierung, die ohne Hilfe der USA und anderer Nato-Staaten nicht lange überleben dürfte. Ghanis jüngstes Waffenstillstandsangebot aus Anlass des Opferfestes ist Ausdruck dieser Schwäche. Es spiegelt zugleich die Einsicht, dass sich Frieden in dem Land am Hindukusch nur am Verhandlungstisch erreichen lässt - sofern das nach fast 40 Jahren Krieg noch vorstellbar ist. Ghanis letzte Offerte einer Waffenruhe im Juni hatte zwar zu spektakulären Verbrüderungsszenen zwischen Regierungssoldaten und Taliban und großer Begeisterung in der kriegsmüden Zivilbevölkerung geführt, doch dann wurde gleich wieder weitergeschossen.

Die Taliban haben keinen Grund, dem Staatschef das Umfeld für ruhige Wahlen zu schaffen

Die Taliban reagierten auch entsprechend zurückhaltend auf das jüngste Kabuler Friedensangebot. Sie wollen die Waffen nicht ein Vierteljahr, sondern nur während der drei Feiertage ruhen lassen. Die Islamisten sind wieder einmal auf dem Vormarsch, sollen inzwischen fast zwanzig Prozent Afghanistans kontrollieren und in 30 weiteren Prozent militärisch aktiv sein - was heißt, dass mindestens die Hälfte des unwegsamen Landes als gefährlich und gefährdet gelten muss. Talibanführer Mullah Haibatullah Achunzada weiß zudem, dass Ghani im Oktober das Parlament wählen lassen will: Er hat deshalb keinen Grund, dem Präsidenten dafür ein ruhiges Umfeld - und somit einen handfesten politischen Erfolg - zu verschaffen.

Ein ernst zu nehmender Gesprächspartner ist der seit 2014 regierende ehemalige Weltbanker Ghani für die Taliban ohnehin nicht. Sie sehen ihn ihm eine Marionette Washingtons. Die Radikalislamisten, die das Land von 1996 bis 2001 mehr oder weniger und vor allem mit Gewalt regiert hatten, wollen nur direkt mit den USA über Frieden sprechen. Der Abzug nicht nur der amerikanischen, sondern aller ausländischen Truppen, darunter sind noch immer etwa 1140 Bundeswehrsoldaten, ist für sie Grundbedingung. Der Taliban-Chef sagte anlässlich des Opferfests: "Unser Dschihad gegen die amerikanische Besatzung steht kurz vor dem Sieg."

So weit dürfte es indes noch nicht sein: Auch wenn die Nato ihren Kampfeinsatz in Afghanistan 2014 offiziell beendet hat, stehen noch 20 000 Soldaten im Land. Sie trainieren und bewaffnen die Kabuler Armee und stehen im Anti-Terror-Einsatz. Enorm wichtig ist die US-Luftwaffe mit ihren Jets und Drohnen, ohne die Ghanis Truppen den Taliban oft nicht gewachsen wären; die US-Flieger bombardieren mehr als je zuvor.

Wie schwach die vom Westen hochgepäppelten afghanischen Streitkräfte mit ihren circa 350 000 Mann sind, zeigte sich vor wenigen Tagen. Die Taliban hatten die wichtige Provinzstadt Ghasni im Südosten fast vollständig erobert, wurden erst nach fünf Tagen und nach massiven US-Luftangriffen vertrieben. Mehr als einhundert Soldaten und mindestens 150 Zivilisten sollen umgekommen sein, neben 450 Taliban. Zudem entführten die Milizionäre in der Provinz Kundus drei Fernbusse und nahmen etwa 150 Fahrgäste als Geiseln. Nach Vermittlung örtlicher Würdenträger sind etwa 20 noch in der Hand der Taliban; sollten sie Regierungsmitarbeiter, Soldaten oder Schiiten sein, müssen sie mit dem Schlimmsten rechnen. Dass die Islamisten zur selben Zeit auch einen nahen Distrikt überrannten und in einer anderen Provinz eine Militärbasis einnahmen, zeigt, wie gut die Miliz inzwischen auch größere, koordinierte Kampfeinsätze beherrscht.

Die "Rote Einheit", eine geheimnisvolle Elitetruppe mit modernen US-Waffen

Ein Indiz für das wachsende militärische Gewicht der Taliban ist die "Rote Einheit". Die angeblich mehrere Tausend Mann starke Elitetruppe verfügt von den Taliban lancierten Berichten zufolge über moderne Waffen amerikanischer Bauart, Humvee-Jeeps und Nachtsichtgeräte. Möglicherweise stammen die Waffen aus den Beständen der korruptionsgeplagten Armee, vielleicht kommen sie auch aus dem benachbarten Pakistan; dessen Geheimdienst hat die Taliban schon immer unverhohlen unterstützt. Die geheimnisvolle Elitetruppe soll bei den Kämpfen um Ghasni zum Einsatz gekommen sein. Berichte, wonach dort arabische und tschetschenische Dschihadisten mitkämpfen, sind unbestätigt. Verwundern würde es aber nicht: Schließlich kämpften Araber gegen die Rote Armee für die damaligen "Gotteskrieger"; einer von ihnen hieß Osama bin Laden, er formte aus seinen Kämpfern später al-Qaida.

Auch wenn die Nato die afghanische Armee nach dem Beinahefall von Ghasni wie üblich gesundredete und militärische Zwischenerfolge der Taliban als nur "spektakulär, aber nicht anhaltend und entscheidend" herunterspielte, kann sich Präsident Ghani auf seine Streitkräfte kaum verlassen. Die Truppe hat im Kampf gegen die Taliban und gegen den nur in wenigen Landesteilen und der Hauptstadt Kabul aktiven IS nicht nur hohe Verluste zu beklagen. Sie wird auch von feindlichen "Schläfern" geplagt: Bei der Einnahme von Ghasni sollen sich in Regierungsuniformen gekleidete Taliban in die Stadt geschlichen haben, bevor der Angriff begann. Voll auszuzahlen scheint sich die jahrelange westliche Aufbauarbeit bis heute also noch nicht.

Bei alledem stellt sich die Frage, wie lange die USA unter einem Präsidenten Donald Trump sich militärisch noch engagieren wollen. Zumindest im Geheimen scheint Washington bereit zu sein, mit den Taliban zu reden: eine ranghohe US-Diplomatin traf jüngst in Katar mit Vertretern der Islamisten zusammen.

© SZ vom 22.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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