Afghanistan:Heute auf der Schulbank, morgen an der Front

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In Afghanistan werden im Eiltempo Polizisten und Soldaten ausgebildet. Der knappe Zeitplan ist von der Politik diktiert - und nicht von der Lage im Land.

Martin Winter, Tagab

Stürmen. Sichern. Durchsuchen. Die afghanischen Polizisten üben den Einsatz bis er sitzt. Das Haus ist umzingelt, die Tür aufgebrochen, der Aufständische verhaftet und die Waffen sind gefunden. Hauptmann Philipe Pacaut und die Ausbilder von der französischen Gendarmerie applaudieren. So stellen sie sich vor, wie es hoffentlich bald kommt: Afghanische Ordnungshüter sorgen ohne fremde Hilfe für Sicherheit in ihrem Bezirk. Und wenn sie Probleme mit Aufständischen haben, dann rufen sie die afghanische Armee. Die sorgt dann schnell und effizient für deren Ausschaltung.

So weit der Wunsch. Erfüllt er sich, dann kann die von der Nato geführte Internationale Schutztruppe für Afghanistan (Isaf) endlich abziehen. Die Truppensteller werden allmählich ungeduldig. Dieser Krieg ist nicht mehr sonderlich populär und US-Präsident Barack Obama hat seinem Land versprochen, Ende 2011 mit dem Abzug zu beginnen. Deshalb hat sich die Nato nach acht Jahren eines Krieges, der die Sicherheitslage am Hindukusch verschlechtert hat, im Herbst eine neue Strategie verpasst.

Hinter den hohen Wällen, die das Lager Kutchbach gegen Angriffe schützt, wird sie, wie an vielen Orten im Land, dem ersten Wirklichkeitstest unterzogen. Hier lernen die Polizisten für den Ernstfall - und der heißt für sie nicht, den Verkehr zu regeln, sondern der Ernstfall ist die Konfrontation mit gewalttätigen Gruppen. Bis diese Polizisten sich der stellen können, ist es noch ein sehr weiter Weg. Was nicht daran liegt, dass sie nicht kampfesmutig wären. Aber er könne seine Leute "nicht in Taliban-Häuser schicken", solange die Taliban so stark sind wie sie sind, sagt Zaed Zalawar. Er ist Oberst und Polizeichef der Großgemeinde und des Tales Tagab, das man vom Lager Kutchbach in voller Länge überblicken kann. Die Franzosen schätzen Zalawar als einen guten, mutigen und vor allem nicht korrupten Polizisten. Seit er vor drei Jahren hierher kam, wurde er drei Mal angeschossen.

Aber seine Wirklichkeit sieht nun einmal so aus, dass er mit seinen 120 Mann in einer Großgemeinde von 80.000 Menschen gegen geschätzte 700 Taliban und sonstige Aufständische wenig auszurichten vermag. Er ist schon froh, wenn er die vierzehn Kontrollposten auf der Straße, die durch das Tal führt, rund um die Uhr besetzen kann - und dann immer noch hoffen muss, dass niemand die Posten angreift, weil er dann die afghanische Armee rufen muss, die aber nicht kommt. Dann bleibt ihm doch wieder nur der Hilferuf an die Isaf-Truppen. Die sind fast immer schnell zur Stelle.

Der Ruf nach Unterstützung ist der tägliche Ernstfall Zalawars. Um in Tagab, das gerade einmal ein halbes Dutzend Kilometer nordöstlich von Kabul in den Bergen liegt, aus eigener Kraft für Sicherheit sorgen zu können, bräuchte er mehr Männer, die besser ausgebildet und auch besser bewaffnet sind. Womit sie es zu tun haben, beschreibt der Gendarmerie-Oberst Didier Laumont: Allein im Dezember gab es neunzehn Feuergefechte, sechs Sprengfallen wurden entdeckt oder explodierten, sechsmal wurde mit kleinkalibrigen Waffen aus dem Hinterhalt auf die Franzosen geschossen und fünfmal explodierten im oder vor dem Lager Kutchbach Raketen aus chinesischer Produktion. Und an diesem Tag, an dem der Sturm auf das hinter der Lagerwand aus Holz und Pappmaché aufgebaute Taliban-Haus gelingt und die Polizisten ihren Test bestehen, wird Besuchern von einem Termin in den Siedlungen unten im Tal abgeraten. Es gebe zuverlässige Erkenntnisse über ein geplantes Selbstmordattentat.

Lesen Sie auf der zweiten Seite: Was geschieht, nachdem das bisherige Konzept gescheitert ist.

Nachdem das bisherige Konzept offensichtlich gescheitert war, schlug die Nato im vergangenen Herbst einen neuen Kurs ein. Der ist - auf dem Papier - simpel und überzeugend: Die Aufständischen werden gezielt in ihren Hochburgen angegriffen. Gleichzeitig werden die Armee und die Polizei Afghanistans ver-stärkt und neben den Soldaten auch deren einheimische Ausbilder trainiert. Und während das geschieht, wird die Verantwortung schrittweise an die Afghanen übergeben. Um so weit zu kommen, muss die Nato aber erst einmal weitere 40.000 zu ihren bereits knapp 90.000 Soldaten schicken. Die Ziele sind dabei ehrgeizig: Bis Oktober 2011 soll die afghanische Armee (ANA) von jetzt etwa 100.000 auf knapp über 170.000 Mann wachsen, die Polizei im gleichen Zeitraum von derzeit 99.000 auf 134.000.

Ob diese Ziele in der kurzen Zeitspanne von zwanzig Monaten zu erreichen ist, ist freilich mehr als fraglich. Der knappe Zeitplan ist von der Politik diktiert und nicht von der Lage in Afghanistan. General Mohammed Saher-Azimi, der Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums, berichtet zwar von 24.000 Männern, die sich im vergangenen Vierteljahr freiwillig gemeldet hätten. Aber nur wenn sich das zu einem stabilen Trend verfestigt, hat die ANA eine Chance, die angepeilte Mannstärke zu erreichen. Aber auch die nutzt nichts, wenn die Soldaten schlecht ausgebildet sind; oder wenn die Armee nicht einmal über Kampfhubschrauber verfügt, mit denen sie Aufständische in ihren Verstecken jagen kann. "Es geht nicht um Zahlen, es geht um Qualität", sagt US-Major Michael Loos.

Am Stadtrand von Kabul liegt die afghanische Militärakademie, hinter der sich ein gewaltiges Übungsgelände bis an den Fuß der Berge erstreckt. Im Achtwochentakt schleusen Nato-Ausbilder wie Loos gemeinsam mit afghanischen Kollegen jeweils bis zu 7500 Rekruten sowie altgediente Soldaten durch das Basistraining. Acht Wochen, das ist nicht viel. Aber die afghanische Armee bereitet sich nicht auf einen Krieg vor, sie steckt schon mittendrin. Mehr als einen Crashkurs in Waffengebrauch und einfachen Taktiken kann man sich nicht leisten. Die Männer werden gebraucht, wo gekämpft wird. So muss zum Beispiel der 36-jährige Oberstleutnant Mohammad Homawon an diesem Wochenende mit 450 Schnellkurs-Absolventen in die Provinz Helmand abrücken, in der Isaf und afghanische Einheiten heftig und verlustreich kämpfen.

Ob acht Wochen Ausbildung genug sind, darüber schweigen sich afghanische wie Isaf-Ausbilder wortreich aus. "Geborene Krieger zu sein", wie Loos die Afghanen nennt, reicht eben nicht. Man muss als Armee auch taktische Regeln beherrschen. Darum müssen auch im Feld schon erfahrene Männer wie Sultan Habib die Schulbank drücken. Der 46-Jährige, der zwei Frauen und neun Kinder hat, trägt Waffen fast so lange, wie er denken kann. Er kämpfte bei den Mudschaheddin, jenen legendären Aufständischen, denen sich die Sowjets geschlagen geben mussten. Und dann kämpfte er gegen die Taliban. Um sein Land "von al-Qaida und Taliban zu säubern" hat er sich nun der Armee angeschlossen. Habib trägt die Rangabzeichen eines Hauptmanns, der er bei den Mudschaheddin schon war. Doch erst jetzt lernt er, mit Kompass und Karte zu arbeiten.

Noch ein weiter Weg

Wenn Männern wie Habib die Grundregeln des Kartenlesens beigebracht werden müssen, dann ist es noch ein weiter Weg zu einer eigenständigen afghanischen Armee und Polizei. Es zeugt von gewaltigem Optimismus, über Nacht effiziente nationale Sicherheitskräfte schaffen zu wollen - und das in einem Land, das mit einer Analphabetenrate von mehr als 80 Prozent geschlagen und von einem mörderischen Bürgerkrieg geprägt ist. General Saher-Azimi spricht darum auch von vier bis fünf Jahren.

Präsident Karsai setzt inzwischen auf Verhandlungen mit der Taliban-Führung in Pakistan. Doch das durchkreuzt Islamabad offensichtlich gezielt durch die Verhaftung von Karsais Gesprächspartnern. Der Abgeordnete Khalid Pashtoon aus Kandahar ist deswegen überzeugt, dass Pakistan den Krieg am Leben halten will, weil ihm ein schwaches Afghanistan nütze. Er habe sogar Hinweise , dass mit pakistanischer Hilfe "eine zweite Taliban-Führung im Süden Afghanistans aufgebaut wird". Da tue sich eine neue Front auf. So bleibt vielleicht doch nur der Krieg - und die Hoffnung, dass die Armee und die Polizei Afghanistans so schnell lernen, wie die Nato das geplant hat.

© SZ vom 18.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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