Abitur:Zentralisierte Vielfalt

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Reifeprüfung: In Deutschland machen immer mehr junge Menschen Abitur. Und die meisten von ihnen versuchen es mit einem Hochschulstudium. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Mathe, Deutsch, Englisch, Französisch: Erstmals können sich alle Bundesländer aus einem gemeinsamen Aufgabenpool bedienen. Ob das wirklich die gewünschte Vergleichbarkeit der Noten verbessert, ist jedoch zweifelhaft.

Von Paul Munzinger, München

Am 3. Mai wird es in Deutschlands Schulen eine Premiere geben. In Bayern und Hamburg, in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg - überall werden sich Schüler von acht Uhr an über das Mathematik-Abitur beugen. Einige werden sogar die identische Aufgabe bearbeiten, egal wo sie die Prüfung ablegen. Von einem Zentralabitur aller Schüler zur gleichen Zeit, wie es etwa Jahr für Jahr ganz Frankreich elektrisiert, mag das noch weit entfernt sein. Für die föderal zerklüftete Bildungsrepublik Deutschland ist es ein Meilenstein - oder, je nach Perspektive, ein Meilensteinchen.

Erstmals können sich 2017 alle deutschen Bundesländer aus einem gemeinsamen Aufgabenfundus für das Abitur in den Fächern Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch bedienen. Um die Zahl der Aufgaben überschaubar zu halten, braucht es einheitliche Termine - eine Herausforderung angesichts des in jedem Land anders getakteten Schuljahres. Geeinigt haben sich die Länder - mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz und Hessen - auf einen einzigen Termin für Mathe und je zwei für die anderen Fächer; den Anfang macht das Deutsch-Abitur am 25. April. Ziel des Aufgabenpools ist, das Abitur vergleichbarer und gerechter zu machen.

Das Abitur sei in den Ländern "zu unterschiedlichen Preisen zu haben", wird kritisiert

Das Problem ist bekannt. In Deutschland wird nahezu die Hälfte aller Studienplätze zentral vergeben. Die Abiturnoten aber, die entscheiden, wer einen Platz in Medizin oder Psychologie erhält, werden dezentral erhoben - nach jeweils eigenen Regeln. Zwar setzt sich die Abiturnote überall zu einem Drittel aus den Prüfungen und zu zwei Dritteln aus den Leistungen der letzten beiden Schuljahre zusammen. Doch was gefragt wird und wie die Antworten der Schüler bewertet werden, dazu gibt es nur grobe Rahmenvereinbarungen: die seit 2014 gültigen Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife. Zudem unterscheiden sich die Anzahl der schriftlichen Prüfungen - in manchen Ländern sind es drei, in anderen vier -, die Gewichtung sowie zum Beispiel die Vorbereitungszeit für die mündlichen Prüfungen. Auch deshalb gaben 92 Prozent der Eltern vor drei Jahren in einer Umfrage an, sie wünschten sich ein Zentralabitur.

Das wird es in Deutschland nicht geben, da sind sich die Länder einig. Doch in der eisern verteidigten Vielfalt will man durch den gemeinsamen Aufgabenpool zumindest die Vergleichbarkeit verbessern, darauf hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) 2012 verständigt. Ob das gelingt, ist allerdings zweifelhaft. Der Weg sei richtig, sagt Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Das Abitur sei in den Ländern "zu unterschiedlichen Preisen" zu haben. Soll heißen: Wer in Thüringen eine Eins vor dem Komma erreiche, habe nicht zwingend das Gleiche geleistet wie ein Schüler in Niedersachsen mit derselben Note - zwischen dem Abiturschnitt beider Länder liegt fast eine halbe Note. Ziel müsse sein, sagt Meidinger, "bei der Vergleichbarkeit ein paar kräftige Schritte voranzukommen". Doch mit dem Aufgabenpool machten die Bundesländer nur "ganz zaghafte Trippelschrittchen".

So machten die gemeinsamen Aufgaben nur einen sehr kleinen Teil der Abiturnote aus, Meidinger schätzt diesen auf fünf bis sieben Prozent. Genaue Angaben sind nicht möglich: Die Länder sagen nicht, wie viele Aufgaben sie übernehmen, zudem können viele Schüler aus verschiedenen Aufgaben wählen. Die KMK hält dagegen, dass nicht die Zahl der Pool-Aufgaben ausschlaggebend sei. Vielmehr würden diese eine "normierende Wirkung" auf alle anderen Aufgaben entfalten.

Schon jetzt bröckelt ein Baustein der neuen Ländereintracht: der gemeinsame Termin

Diese Wirkung wiederum befürchtet Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Eine Angleichung werde auf Kosten der Qualität gehen. Länder mit traditionell strengeren Anforderungen wie Bayern oder Baden-Württemberg würden sich an ein "bundesweites Minimalniveau" anpassen. Die Länder teilen diese Sorge nicht. Während des gesamten Abstimmungsprozesses hätten Qualität und Anspruch des baden-württembergischen Abiturs an oberster Stelle gestanden, heißt es etwa aus Stuttgart.

Wer die Vergleichbarkeit des Abiturs wirklich erhöhen wolle, fordert Meidinger, dürfe nicht bei den Aufgaben stehen bleiben. Die Maßstäbe müssten angeglichen werden, nach denen man die Prüfungen korrigiere. Hier gebe es erhebliche Unterschiede, je nach Bundesland und Schule. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das die Erstellung der gemeinsamen Aufgaben koordiniert und wissenschaftlich begleitet, teilt zwar mit, dass das Korrekturverhalten Gegenstand der Begleitforschung sein werde. In welcher Form aber, das sei offen - genauso wie die Frage, ob die Ergebnisse einen Ländervergleich zulassen werden.

Der Start ins länderübergreifende Abitur-Zeitalter verlief schon mal unglücklich. Unbekannte brachen vergangene Woche in einem Stuttgarter Gymnasium einen Tresor auf, in dem die Mathe- und Englisch-Prüfungen lagerten. In mehreren Ländern mussten daraufhin die Aufgaben ausgetauscht werden. Und ein Baustein der neuen Ländereintracht bröckelt schon jetzt - die Beschränkung auf einen oder zwei Prüfungstermine. Die Terminfindung, heißt es aus Bremen, werde "nicht in dieser Einheitlichkeit bleiben können".

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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