70 Jahre Grundgesetz:Die Würde ist aus Beton

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Der Bundespräsident besucht Halle-Neustadt und tut mehr als viele andere: Er hört den Bürgern zu.

Von Ulrike Nimz, Halle

Die Sonne wirft ein versöhnliches Licht auf die Plattentürme von Halle-Neustadt. Bis 1990 war das Viertel eine eigene Stadt, eine sozialistische Mustersiedlung, erbaut für die Arbeiter aus den DDR-Chemiebetrieben im Umland. Von den einst 100 000 Bewohnern leben noch 46 000 hier, darunter viele verschiedene Nationalitäten. "Ha-Neu" nennen die Alteingesessenen ihr Quartier. Immer öfter fällt auch das Wort "Problembezirk". Nun kommt der Bundespräsident zu Besuch. Mit Verspätung betreten Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender den Kulturtreff. Der Raum wird vor allem von Vereinen genutzt, Briefmarkenbörsen und Chorproben finden hier statt.

"Ich war schlau", sagt der junge Mann. "Ich habe mir eine Westfirma gesucht."

Steinmeiers Besuch ist das Begleitprogramm zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes. Die 16 Landeszentralen für politische Bildung haben Projekte empfohlen, die es täglich und ganz selbstverständlich mit Leben erfüllen. In Halle sitzt der Bundespräsident neben Ehrenamtlichen, Auszubildenden, Anwohnern. Sie alle nehmen an einem Pilotprojekt teil, "das den Prozess politischer Bildung in Halle-Neustadt beleben und die Demokratiebildung stärken soll", so steht es im Pressetext. Im Gespräch wird es konkreter, sehr sogar. Es geht um die Probleme vor Ort.

Sabine Knöfel vom Mehrgenerationenhaus Pusteblume ist Sozialpädagogin, berät Betroffene bei Patientenverfügungen, Pflege, Schwerbehinderung. Sie selbst sitzt im Rollstuhl, wünscht sich, dass die Politik bei der Erwerbsminderungsrente nachbessert. Daniela Ulrich hat ein pflegebedürftiges Kind. Sie habe im Sommer ein Dreirad beantragt, es erst nach zähem Ringen im Winter bekommen. Es fehle an Beratungsmöglichkeiten. Pascal Clasen, Maurer im zweiten Lehrjahr, schwarzer Rollkragenpullover, tätowierter Unterarm, stellt sich die Frage: Warum hat ein Azubi aus dem Westen einen höheren Lohn als ich? 2019 sei ein Jahr des Zurückschauens, sagt Steinmeier. Ein Anlass auch, um den Geschichten derer, die im Osten aufgewachsen sind, Gehör zu schenken. Ein sehr präsidialer Satz ist das, auf den der junge Mann entgegnet: "Ich war schlau: Ich habe mir eine Westfirma gesucht."

Es sind viele Geschichten, denen Steinmeier an diesem Tag in Halle Gehör schenken soll. Es geht um Hochwasserschutz, fehlende Sprach- und Integrationskurse für geflüchtete Mütter mit Kindern, das Azubiticket. Steinmeier müht sich, kann aber in den meisten Fällen nur zuhören. In Halle-Neustadt ist das mehr, als sie von Politikern gewohnt sind.

Eine junge Engagierte, sie unterstützt Frauen aus Somalia, berichtet von rassistischen Kommentaren auf der Straße: "Schwarzes Dreckspack", brüllten sie, hätten keine Argumente. Maike Fraas, Designerin, arbeitet künstlerisch mit Schülern einer Grundschule in der südlichen Neustadt. "Wir reden hier über Gleichheit und das Grundgesetz", sagt sie. "Aber diese Kinder wachsen in dem Wissen auf, dass sie nicht Teil der Gesellschaft sind. Die Gesellschaft sehen sie im Fernsehen."

Die Sprache sei unversöhnlicher geworden, pflichtet Steinmeier bei. "Wenn ich bis abends keine schlechte Laune habe, schaue ich auf meine Facebook-Seite." Man könne sich nicht mehr darauf verlassen, alle an einen Tisch zu bekommen. Umso wichtiger sei ihm der Besuch in Regionen, "wo Politik nicht so präsent ist".

Draußen, vor dem Kulturtreff, enthüllt der Bundespräsident eine viereckige Stele, eine "Säule der Demokratie", von Auszubildenden gefertigt. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", steht darauf. Sie ist aus Beton, was sonst.

© SZ vom 26.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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