Zwölf Punkte gegen Merkels Krisenstrategie:SPD und Grüne attackieren die Kanzlerin

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"Der Euroraum darf nicht an der Engstirnigkeit der deutschen Regierung scheitern": Unmittelbar vor Beginn des entscheidenden Euro-Krisengipfels attackieren die Spitzen von SPD und Grünen Merkels Krisenmanagement - und fordern ein radikales Umdenken von der Kanzlerin.

dokumentiert das Papier.

Es ist eine Abrechnung mit der Krisenpolitik der Kanzlerin: Die Spitzen von SPD und Grünen haben, unterstützt vom Ökonomen Peter Bofinger, ein Zwölf-Punkte-Papier verfasst, in dem sie ihre Sicht auf die Ursachen für die Euro-Krise darlegen und Lösungsvorschläge unterbreiten. Unmittelbar vor Beginn des entscheidenden EU-Gipfels in Brüssel erhöhen sie damit den Druck auf die Kanzlerin, Zugeständnisse zu machen, die Merkel bislang kategorisch ausschließt.

"Der Euroraum darf nicht an der Engstirnigkeit der deutschen Regierung scheitern", ist das Papier, das der Süddeutschen Zeitung exklusiv vorliegt, überschrieben. Neben Bofinger haben SPD-Chef Sigmar Gabriel und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, die Grünen-Chefs Cem Özdemir und Claudia Roth sowie die Grünen Fraktionschefs Renate Künast und Jürgen Trittin das Papier unterzeichnet.

Sie werfen der Kanzlerin vor, aufgrund einer "völlig einseitigen Diagnose" eine falsche Strategie zur Lösung der Euro-Krise zu verfolgen. Es sei "sehr naiv zu glauben, dass die Lage auf den Finanzmärkten wie auch die realwirtschaftliche Entwicklung nur und ausschließlich mit weiteren Konsolidierungsmaßnahmen in den Problemländern stabilisiert werden könne", heißt es in dem Papier.

Wenn die Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation gebetsmühlenhaft immer weitere Konsolidierungsmaßnahmen fordere und gleichzeitig alle Schritte kategorisch ablehne, die zu einer Beruhigung der Finanzmärkte beitragen könnten, gefährde sie die Stabilität der Europäischen Währungsunion und des gesamten europäischen Finanzsystems.

Die Autoren unterstützen dagegen den Vorschlag des Sachverständigenrates der Bundesregierung zur Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Schuldentilgungsfonds und fordern ein Europäisches "Aufbauprogramm". Die von Merkel postulierte Fiskalunion müsse zu einer Solidarunion werden.

Auf den folgenden Seiten dokumentiert sueddeutsche.de das Zwölf-Punkte-Papier der rot-grünen Spitzenpolitiker.

1. Die Bundesregierung verfolgt in der Eurokrise seit Monaten eine eindimensionale Strategie, die die europäischen Finanzmärkte massiv destabilisiert und damit zugleich den Euroraum an den Rand der Rezession geführt hat. Die OECD warnt in ihrem jüngsten Wirtschaftsausblick sogar vor "verheerenden Konsequenzen" ("devastating outcomes"). Mit einem Festhalten an ihrem Kurs gefährdet die Bundesregierung die wirtschaftliche und politische Zukunft Europas und sie schadet dem Ansehen Deutschlands.

2. Das Grundproblem der deutschen Strategie ist eine völlig einseitige Diagnose der nunmehr seit mehr als vier Jahren andauernden Krise. In den Augen der Bundeskanzlerin sind die aktuellen Probleme des Euroraums ausschließlich auf eine unkontrollierte Verschuldung der Staaten zurückzuführen. Damit ist für sie auch die Lösung klar definiert. Die Krise kann nur dadurch gelöst werden, dass sich alle Staaten konsequent darum bemühen, die Verschuldung so schnell wie möglich abzubauen. Zukünftige Fehlentwicklungen sollen durch eine Umgestaltung der Europäischen Verträge verhindert werden, so dass die unsolide Haushaltspolitik eines Mitgliedslandes möglichst konsequent und am besten automatisch sanktioniert wird.

Bei dieser eindimensionalen Sichtweise ist es naheliegend, dass die Bundesregierung alle Formen einer gemeinschaftlichen Haftung ebenso ablehnt wie Anleihekäufe der EZB, da dadurch der als dringend erforderlich angesehene Konsolidierungszwang abgeschwächt wird.

3. Es bedarf eigentlich keiner sehr tiefen Analyse, um zu erkennen, dass die derzeitigen Erschütterungen des Euroraums nicht allein durch eine zu hohe Verschuldungsneigung der Staaten, sondern ebenso zu einem erheblichen Teil auf gravierende Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten zurückzuführen sind. So galten Irland und Spanien im Jahr 2007 als Staaten mit mustergültigen öffentlichen Finanzen. Ihre Haushalte wiesen einen Überschuss auf und die Schuldenstandsquote lag mit 29% bzw. 42% weit unter der 60%-Grenze des Vertrags von Maastricht. Das Problem lag hier in einer ungezügelten Kreditvergabe, die zu einer gigantischen Immobilienblase führte. Nach deren Platzen mussten in die Staaten nicht nur die Banken stabilisieren, sondern zugleich umfangreiche öffentliche Mittel zur Unterstützung der Arbeitslosen einsetzen.

4. Die so entstandenen hohen Defizite und der damit verbundene Anstieg des Schuldenstands sind jedoch keine Besonderheit des Euroraums. Sie sind in ähnlicher und teilweise noch ausgeprägterer Form im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten zu finden.

Wenn sich daraus eine so gravierende Destabilisierung des Euroraums entfalten konnte, ist das wesentlich auf falsche Signale der Bundesregierung zurückzuführen, die immer weiter dazu beitrugen, die Sicherheit europäischer Staatsanleihen infrage zu stellen.

Es ist aber genau diese Sicherheit von Staatsanleihen in Europa und in der Euro-Zone, die in allen Regulierungen für Banken und Versicherungen als absolut sichere Anlagekategorie galten. Der lange Zeitraum über den hinweg diese prinzipielle Sicherheit von Staatsanleihen nun bereits vor allem durch die deutsche Bundesregierung infrage gestellt wurde, hat inzwischen zu einer Verunsicherung in der gesamten Euro-Zone geführt. Auf eine europäische Herausforderung lediglich mit Anforderungen an nationale Sparprogramme zu reagieren, ist eine der wichtigsten Ursachen für die dramatische Entwicklung der Krise.

Diese Entwicklung ist für die Mitgliedsländer der Währungsunion besonders bedrohlich, da sie anders als Japan, das Vereinigte Königreich oder die Vereinigten Staaten nicht über den Rückhalt einer nationalen Notenbank verfügen, die im Notfall bereit und in der Lage ist, die Rückzahlung fälliger Anleihen stets zum Nennwert zu garantieren und mit einer für alle beteiligten Staaten gemeinsamen, verbindlichen und durchsetzbaren Finanz-, Budget- und Stabilitätspolitik zu verbinden. Zusätzlich untergraben wurde das Vertrauen in Anleihen des Euroraums durch eine "Hebelung" der EFSF, womit für die Märkte ein deutliches Signal gesetzt wurde, dass man bei Anleihen Italiens oder Spaniens mit einem Schuldenschnitt von 20% oder mehr zu rechnen habe.

5. Die dadurch ausgelöste Verunsicherung der Märkte war so groß, dass die in den Jahren 2010 und 2011 unternommenen eindrucksvollen Sparbemühungen der Problemländer überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Trotz einer sich teilweise stark abschwächenden Konjunktur ist es in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien gelungen, das Haushaltsdefizit im Jahr 2011 um bis zu 6,8 Prozentpunkte unter das Niveau des Jahres 2009 zurückzuführen. Es gehört zu den großen Versäumnissen der Bundesregierung, dass sie diese erfolgreichen und für die Bevölkerung der betroffenen Länder sehr schmerzhaften Anstrengungen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber nahezu völlig unterschlägt. Die Bemühungen der Problemländer werden besonders deutlich, wenn man sie mit die Haushaltsentwicklungen in Japan, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten vergleicht, die in der gleichen Phase nur eine leichte Besserung erkennen lassen; in Japan hat sich das Defizit sogar erhöht.

6. Es ist deshalb sehr naiv zu glauben, dass die Lage auf den Finanzmärkten wie auch die realwirtschaftliche Entwicklung nur und ausschließlich mit weiteren Konsolidierungsmaßnahmen in den Problemländern stabilisiert werden könne. Maßnahmen zur Konsolidierung sind richtig und wichtig. Klare Aussagen zur Zukunft der Eurozone und zur gemeinschaftlichen Haftung innerhalb einer Währungsunion gehören jedoch unabdingbar dazu. Auf das Pferd der Konsolidierung zu setzen ist in konjunkturell ungewissen Zeiten immer ein Ritt auf der Rasierklinge. Dies gilt insbesondere für Italien. Nach den derzeitigen Planungen wird sich das Defizit dieses Landes im Jahr 2012 um zwei Prozentpunkte verbessern.

Gleichzeitig erwartet die OECD, dass es in Italien im nächsten Jahr zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts kommen wird. Wenn man in einer solchen Konstellation weitere Einsparungen im öffentlichen Sektor unternimmt, ist die Gefahr groß, dass sich die konjunkturelle Situation weiter verschlechtert. Da sich dies negativ auf das Defizit und den Schuldenstand auswirkt, ist zu erwarten, dass die Finanzierungsprobleme des Landes weiter zunehmen. Durchaus sinnvoll wäre in Italien aber eine Vermögensabgabe in relevanter Höhe, um die sehr hohen Privatvermögen im Land zur Reduzierung der Staatsschulden mit einzubinden. Dies würde die Akzeptanz der restlichen Sparmaßnahmen sowie eventueller Kredithilfen erhöhen.

7. Bei einer nüchternen Diagnose der Probleme des Euroraums wird somit zu einem deutlich, dass diese zu einem erheblichen Teil auf Fehlentwicklungen der Finanzmärkte im letzten Jahrzehnt zurückzuführen sind. Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass die akute Verschärfung der Situation nicht allein mit mangelnden Sparanstrengungen der Problemländer, sondern ebenso durch eine Verunsicherung von Banken, Versicherungen und anderen Investoren, ausgelöst durch missverständliche und unklare politische Signale, zu erklären ist. Dies hat zu einem Teufelskreis geführt, bei dem sich über steigende Zinsen für Staatsanleihen immer Länder nicht nur einem Liquiditäts-, sondern auch einem Solvenzproblem gegenüber sehen. Da damit die Eigenschaft der Staatsanleihen als sicherer Kern des Finanzsystems in Frage gestellt wird, gefährdet dieser Prozess die Stabilität von Banken und Versicherungen. Da dies zu Einschränkungen bei der Kreditvergabe führt, werden zusätzliche negative Rückkopplungseffekte auf die Realwirtschaft ausgelöst.

8. Wenn die Bundesregierung in einer solchen Situation gebetsmühlenhaft immer weitere Konsolidierungsmaßnahmen fordert und gleichzeitig alle Schritte, die zu einer Beruhigung der Finanzmärkte beitragen könnten, kategorisch ablehnt, gefährdet sie die Stabilität der Europäischen Währungsunion und des gesamten europäischen Finanzsystems. Zugleich nimmt sie billigend in Kauf, dass es zu einer schweren Rezession im Euroraum kommen kann. In den Problemländern mit einer ohnehin beängstigend Jugendarbeitslosigkeit würde dies die Haushaltskonsolidierung ebenso gefährden wie die politische Stabilität. Da Deutschland für solche Entwicklungen zu Recht die politische Verantwortung zugeschrieben würde, würde das Ansehen unseres Landes im Ausland erheblichen Schaden nehmen.

9. Für die Lösung der akuten Krise ist ein ähnliches Vorgehen erforderlich, wie es im Herbst 2008 erfolgreich zur Stabilisierung des Bankensystems angewendet wurde. Zuerst wurde das System stabilisiert, die erforderlichen Regeländerungen zur Vermeidung künftiger Fehlentwicklungen kamen als zweiter Schritt. Damals wurde ein drohender Bank-Run dadurch abgewendet, dass die Regierungen die Sicherheit aller Bankeinlagen garantierten.

Heute kommt es darauf an, das Vertrauen in die Staatsanleihen der Mitgliedsländer des Euroraums wieder herzustellen. Der gemeinsame Vorschlag des Sachverständigenrates der Bundesregierung zur Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Schuldentilgungsfonds ist dafür der richtige Weg. Eine schnelle Realisierung dieses Schuldentilgungsfonds - verbunden mit ersten Schritten zu einer echten europäischen Fiskalunion in der Eurozone - ist die letzte Möglichkeit, das Vertrauen in die Staatsanleihen des Euroraums wiederherzustellen.

Der Schuldentilgungsfonds verbindet ein klares politisches Bekenntnis zur gemeinsamen Eurozone und einer gemeinschaftlichen Haftung mit den notwendigen Solidaritätsanstrengungen der Länder für tragfähige Haushalte. Wir erweitern die Fiskalunion der Bundesregierung zu einer Solidarunion. Denn nur mit Solidarität unter den Euro-Staaten können wir die Stabilität unserer Währung garantieren.

Kurzfristig muss dazu auch der vorläufige Rettungsschirm genutzt und der permanente Stabilitätsmechanismus zeitlich so weit wie möglich nach vorn gezogen werden. Der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) könnte der Nukleus eines Europäischen Währungsfonds werden. Ohne ein solches Instrument wird die Europäische Zentralbank in die Rolle gezwungen, eine drohende Kernschmelze des Finanzsystems abzuwenden. Statt eines rechtlich und demokratisch legitimierten und politisch verantworteten Handels würden damit Bankvorstände in der EZB die Rolle der Politik übernehmen. Zudem erhöht sich das Risiko auch für die deutschen Steuerzahler mit jedem weiteren Aufkauf von Anleihen der Krisenstaaten durch die EZB. Dies gilt es zu verhindern.

10. Wir brauchen jetzt ein Europäisches Aufbauprogramm mit dem klaren Vorrang von Investitionen in die Realwirtschaft. Wir brauchen in Europa eine soziale und ökologische Transformation mit dem Aufbau neuer Wertschöpfungsketten in den Leitmärkten der Zukunft. Wir brauchen eine europäische Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Wir brauchen die Besteuerung der Finanzmärkte. Die Verursacher der Krise müssen bei ihrer Bewältigung mithelfen. Wenn es im Europa der 27 nicht möglich ist, muss die Euro-Gruppe vorangehen.

11. Gefordert ist gleichermaßen Solidität wie Solidarität. Deshalb sind die Bestrebungen der Bundesregierung, mehr fiskalische Disziplin vertraglich festzuschreiben, grundsätzlich zu begrüßen. Dafür allerdings reicht die bloße Übernahme der bereits geltenden Stabilitäts- und Haushaltsregeln der EU in das europäische Vertragswerk nicht aus. Aus der Währungsunion muss eine echte politische Union mit einer gemeinsamen Finanz- und Steuerpolitik und mit gemeinsamen Entwicklungszielen für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Währungsraums werden. All das muss aber einhergehen mit der Bereitschaft, die Staatsfinanzierung der Mitgliedsländer auf eine gemeinschaftliche Basis zu stellen. Nur so können diese aus dem Würgegriff panischer Finanzmärkte befreit werden und nur so kann die Stabilität der Staatsanleihen des Euroraums wiederhergestellt werden, die eine zentrale Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Finanzsystems darstellt.

12. Dieser Weg setzt voraus, dass wir unseren Partnerländern vertrauen können. Es steht außer Zweifel, dass Griechenland in der Vergangenheit Statistiken gefälscht hat. Aber es ist auch nicht zu übersehen, dass alle Krisenländer in diesem und im letzten Jahr die Bereitschaft gezeigt haben, große Opfer einzugehen, um ihren Beitrag für die Stabilität der Währungsunion zu leisten. Aus der Geschichte des heutigen Europas, das auf den Trümmern zweier Weltkriege aufgebaut wurde, ergibt sich die solidarische Chance für einen Neuanfang. Deutschland hat heute den Schlüssel für die Zukunft der europäischen Integration wie das Wohlergehen von 330 Millionen Bürgern des Euroraums in der Hand. Es wäre fatal, wenn Europa an der Engstirnigkeit einer deutschen Regierung scheitern würde.

Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier, Renate Künast, Cem Özdemir, Claudia Roth, Jürgen Trittin, Peter Bofinger

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