Zooserie (3): Tallinn:Der Tallinner Zoo

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Die Tierparks in Osteuropa stecken in einer Übergangsphase: Sie müssen sowohl die Bedürfnisse der Tiere als auch der Besucher erfüllen. Vorreiter ist die Anlage im estnischen Tallinn. Ein Rundgang mit dem dienstältesten Zoodirektor Europas.

Matthias Kolb

Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass der Zoo in Tallinn ohne Mati Kaal heute anders aussehen würde. Denn ohne den Direktor gäbe es heute in der estnischen Hauptstadt gar keinen Tierpark mehr. Anfang der achtziger Jahre wollten die kommunistischen Funktionäre eine Schnellstraße bauen und deswegen den Zoo schließen lassen.

Doch Mati Kaal fand ein Argument, das die Parteioberen nicht ignorieren konnten: "Ich habe gesagt: 'Genossen, wenn das kapitalistische Estland vor dem Krieg den Zoo gegründet hat, dann können wir Kommunisten ihn doch nicht schließen.'" Mati Kaal freut sich noch immer diebisch, wenn er die Anekdote erzählt.

"Damals in der Sowjetzeit hatten wir nicht so viele Geldsorgen", erinnert sich der 61-Jährige, "Hauptsache, wir waren besser als die Kapitalisten." Die Schnellstraße wurde zwar trotzdem gebaut, aber der "Tallinna Loomaaed" konnte 1983 ein 87 Hektar großes Militärgelände beziehen. "Wir waren die ersten Esten, die die Rote Armee vertrieben haben", lacht Kaal und bittet zur Führung.

Der Rundgang beginnt in der großen Abteilung für Raubvögel, in der zahlreiche Eulen, Geier, und Adler in ihren Volieren zu bewundern sind. "Unsere Mönchsgeier fliegen auf Mallorca herum", berichtet Kaal, die Vogelzucht gehört zu den Stärken im Tallinner Zoo. Ein besonders großes Gehege bewohnt der Luchs, das Wappentier des Zoos.

"1937 gewannen estnische Schützen den Weltmeistertitel und erhielten als Preis einen jungen Luchs namens Illu", erklärt Kaal in einem wunderbar altmodischen Deutsch. Zwei Jahre später öffnete der Zoo seine Tore und Luchs Illu war der große Star. 1940 besetzte die Sowjetunion das Land, 1941 eroberte Hitlerdeutschland das Baltikum. Nach 1944 wurde Estland zu einer Sowjetrepublik, bis das Land 1991 wieder unabhängig wurde.

Noch heute sind die Raubkatzen wichtig für das Marketing des Zoos, erklärt Direktor Kaal: "Im Juni und Juli bieten wir Nachtführungen an, damit die Besucher die Luchse sehen können, wenn sie aktiv sind." Die Tickets sind innerhalb von Stunden ausgebucht.

Ähnlich beliebt sind auch klassische Konzerte vor der renovierten Anlage der Wasservögel, die laut Kaal gerne mitsingen und mitquacken. Mit solchen Events versucht der Zoo, sich gegen die Konkurrenz im kurzen estnischen Sommer zu behaupten: An jedem Wochenende finden im ganzen Land Konzerte, Festivals und Sportveranstaltungen statt.

Werben um Touristen

Besonders wichtig für den Tallinner Zoo ist es, mehr Besucher aus dem Westen anzulocken. 2006 kamen 336.000 Besucher, doch bei lediglich 1,35 Millionen Esten lassen sich die Einnahmen nur steigern, wenn mehr Touristen auch den Zoo besuchen, der problemlos mit dem Trolleybus zu erreichen ist.

Allerdings seien die Ausländer mitunter enttäuscht über den Zustand der Anlagen und machen sich Sorgen um die Tiere: "Viele vergessen, dass es vor 30 Jahren in westeuropäischen Zoos genauso aussah", sagt Kaal, ohne sich zu beklagen. Er weiß: In seinem Zoo werden alle Anlagen modernisiert und die Esten profitieren vom Know-how.

Es ist ein seltsames Nebeneinander von Alt und Neu, das sich während des zweistündigen Spaziergangs präsentiert. Tiger, Wölfe und Bären sind in trostlosen Käfigen untergebracht, während sich Elefanten, Löwen und Schimpansen über moderne und großräumige Gehege freuen können.

"Wir können nur Schritt für Schritt modernisieren und es hängt auch davon ab, wie viel Geld wir von Sponsoren und vom Staat bekommen", erklärt Direktor Kaal.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso es in Estland die weltweit größte Sammlung an Gebirgshuftieren gibt.

Er liebt seinen Zoo und geht immer wieder auf Besuchergruppen zu, weist sie auf Besonderheiten hin oder beantwortet Fragen. Er und seine 200 Mitarbeiter möchten, dass die Menschen etwas lernen. Das beweisen die ausführlichen und klar gestalteten Informationstafeln, die stets in Estnisch, Russisch und Englisch beschriftet sind. Viele Esten können sich noch immer keine Reisen ins Ausland leisten: Für sie ist der Tierpark der einzige Kontakt zu exotischen Tieren.

Ein Paradies für Ziegen

Dabei ist Mati Kaal, der sich sein Deutsch selbst beigebracht hat, stets zu Scherzen aufgelegt. Als wir vor dem Gehege der Schraubenziegen stehen, fragt er, weshalb die Evolution diese Tiere entwickelt habe. Als keine Antwort kommt, grinst er und sagt: "Damit die Menschen wissen, wie sie den Korkenzieher konstruieren müssen".

Überhaupt die Ziegen, das ist der Stolz der Esten: Die Sammlung an Gebirgshuftieren ist die größte der Welt. Das hat einen einfachen Grund: Der erste Standort war nur drei Hektar groß und hatte viele für Estland typische Kalksteinfelsen.

Also suchten Kaals Vorgänger nach Tierarten, die dort gut leben konnten und bekamen in der Sowjetzeit viele seltene Exemplare. Heute wird der Ostkaukasische Steinbock nur in Tallinn gezüchtet und von Estland aus in die Welt verschickt - gleiches gilt für den Europäischen Nerz.

Vor drei Jahren haben die Tiere das sieben Hektar großen Alpinarium bezogen: Hier können die Blauschafe, die Ostkaukasischen und Sibirischen Steinböcke und die anderen Gebirgshuftiere auf künstlich angelegten Bergen herumklettern. Die Besucher gehen auf verschlungenen Wege durch die Gehege und können die Tiere aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten.

Bald wird auch die Voliere für die Mönchsgeier eingeweiht und in naher Zukunft wird der Schneeleopard ebenfalls hier seine Heimat finden - dahinter steckt die moderne Zoophilosophie, die Tiere regional zu präsentieren.

Das Gehege für den Schneeleoparden wird mit deutschem Geld finanziert: die Gemeinschaft Deutscher Zooförderer suchte einen osteuropäischen Tierpark, den sie fördern wollte und die Wahl fiel auf Tallinn.

Pläne für die nächsten Jahre

Der Rückweg führt am neuen Tropenhaus und an den tristen Gehegen der Braun- und Eisbären vorbei. "In den letzten fünfzehn Jahren hatten wir vier Eisbärbabys", erzählt Kaal und schüttelt ein wenig den Kopf über den Knut-Wahnsinn in Deutschland. Er ist Mitglied im Verein der deutschen Zoodirektoren und beobachtet gerade einen Generationswechsel.

"Die Kollegen, mit denen ich angefangen habe, sind nun alle in Rente", sagt er. Als Zoodirektor brauche man Zeit, um etwas zu entwickeln und aufzubauen, berichtet Kaal, der bereits Renovierungspläne für die nächsten zwanzig Jahre macht.

Er ist seit 1975 für den Tallinner Tierpark verantwortlich und könnte in vier Jahren in Rente gehen, doch wenn es seine Gesundheit erlaubt, wird er wohl weitermachen.

Auf der letzten Seite lesen Sie, wie die Zoologen in Estland versuchen, den Europäischen Nerz zu züchten und wieder in freier Wildbahn anzusiedeln.

Am Schluss führt er uns in einen Bereich, der für normale Besucher streng verboten ist: In einem abgetrennten Bereich werden Europäische Nerze gezüchtet. Kaal nähert sich vorsichtig einem der Käfige, macht Lockgeräusche und rattert mit einem Schlüssel am Gitter. Wenige Sekunden später lugt ein dunkelbrauner Kopf aus einer Luke hervor.

Der Nerz zögert, doch nach einer halben Minute siegt die Neugierde und das marderähnliche Tier kommt ans Gitter. Kaal ist zufrieden: "Wir versuchen, die Tiere so gut wie möglich auf die Wildnis vorzubereiten." Im Zoo von Tallinn findet die Züchtung statt: "Wir ärgern sie mit Füchsen und Eulen, damit sie keine Angst mehr vor ihnen haben." Die ersten Tiere fielen in freier Wildbahn ihrer Zutraulichkeit zum Opfer - Habichte, Eulen und Füchse freuten sich über die Leckerbissen.

Der größte Feind des Europäischen Nerzes ist jedoch der Amerikanischer Nerz: Er wurde im 19. Jahrhundert angesiedelt, da das Fell immer beliebter wurde und hat den Europäischen Nerzes ( Mustela lutreola) immer stärker aus seinem angestammten Lebensraum vertrieben.

Nun ist der Europäische Nerz in Europa fast ausgerottet, kleinere Populationen gibt es in Russland, Weißrussland sowie in Frankreich und Spanien. In Estland versucht man nun, die Tiere auf der Insel Hiiumaa anzusiedeln, damit sie sich dort fortpflanzen. Dazu wurden alle Amerikanischen Nerze eingesammelt und auf das dreißig Kilometer entfernte Festland gebracht.

Dieses Projekt ist laut Direktor Kaal ein gutes Beispiel, wie Zoos dazu beitragen können, gefährdete Arten zu erhalten und zu schützen. Generell sei die Kooperation zwischen den Zoos weltweit sehr gut. Kaal sieht dafür einen einfachen Grund: "Alle wollen, dass es den Tieren so gut wie möglich geht."

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