WM 2006:Und es war Sommer

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Es war der WM-Sommer unseres Lebens. Doch was ist ein Jahr danach noch übrig davon? Gibt es den neuen Patriotismus noch, und wurden wirklich mehr Babys geboren? Fakten und Einschätzungen von Experten.

Holger Gertz

Bevor dank der Fußball-WM der Begriff "Sommermärchen" in unser aller Sprachbaukasten eingespeist wurde, gab es lediglich das "Wintermärchen", eine Satire von Heinrich Heine.

Hält das WM-Gefühl in Deutschland noch an? (Foto: Foto:)

Heine war längst in Frankreich im Exil, und ein kurzer Aufenthalt in Deutschland veranlasste ihn, dieses Wintermärchen zu schreiben: "Noch immer das hölzern pedantische Volk,/Noch immer ein rechter Winkel/In jeder Bewegung, und im Gesicht/Der eingefrorene Dünkel."

Auch der Erfinder des Sommermärchens, Jürgen Klinsmann, war länger im Exil, in Kalifornien, ehe er vorübergehend nach Deutschland zurückkam, um den deutschen Fußballern den rechten Winkel aus jeder Bewegung abzutrainieren: ein Vorhaben, bei dem ihn zahlreiche amerikanische Stretching-Spezialisten mit Gummibändern unterstützten.

Das Experiment gelang. Auf dem Fußballplatz zauberten deutsche Spieler herum, wie sie es nie zuvor gekonnt hatten. Der deutsche Stürmer David Odonkor war wie eine Wespe im Auto, er lenkte alle Gegner ab und trug dazu bei, dass die Tore fielen wie bestellt.

Dem deutschen Stopper Robert Huth war, neben dem rechten Winkel im Bein, auch der Dünkel aus dem Gesicht getaut; es war heiß in Deutschland, fast vierzig Grad, und die Massen tanzten, und die Polizisten in Hannover schlossen einen alten Bunker auf, um angolanischen Fans, die kein Hotelzimmer gebucht hatten, eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit anzubieten.

Heinrich Heine war widerlegt, ein paar Wochen lang, was man an den deutschen Polizisten am besten dokumentieren konnte. Diese ließen sich in allen möglichen Verkleidungen fotografieren: Australische Fans setzten ihnen einen Känguru-Hut auf, französische Fans steckten sie in das Kostüm des gallischen Hahns, holländische Fans stellten sie auf einen Plastikgouda, brasilianische Fans hatten einen Satz Original-Ronaldinho-Hasenzähne dabei.

All diese Verkleidungen legten die Polizisten tapfer an und ließen sich damit fotografieren, und überall in der Welt, wo die Fotos noch immer herumgereicht werden, bewundert man die Deutschen deshalb wegen ihrer lässigen Beamten.

Aber das Sommermärchen war, wie der Name andeutet, ein Märchen, und irgendwann war das Märchen vorbei, ziemlich genau einen Tag nach dem Finale. Und die Polizisten mussten sich - es war wieder sehr heiß - die schwarzen Helme überziehen, um dem Mob Herr zu werden, beim G8-Gipfel und vorher schon bei Fußballspielen in der Dritten Liga.

Odonkor, die Wespe, wurde nach Spanien verkauft, von Robert Huth hat man nie mehr etwas gehört, und Jürgen Klinsmann ist, wie damals Heine, zurückgegangen ins Exil. Nur Torsten Frings sieht so aus, als sei er noch immer nicht zum Friseur gegangen, in den langen Haaren des Bremers lebt das Märchen fort.

Und sonst? Es war vor einem Jahr, es war nur Fußball, es war ein Märchen, und mehr kann man von Fußball wie Märchen ehrlicherweise nicht verlangen, als dass man für einen Moment abgelenkt wird von der richtigen Welt.

Der Film kam später in die Kinos: "Im traurigen Monat November war's/Die Tage wurden trüber", schreibt Heine, allerdings war die Kinopremiere von "Deutschland. Ein Sommermärchen" schon im Oktober.

Der Film zeigte tanzende Fußballerbeine und verheulte Fußballfangesichter; außerdem hörte man, wie Klinsmann, Märchenonkel a. D., in der Kabine brüllte: "Das lassen wir uns nicht nehmen, von niemandem - und schon gar nicht von den Polen!" Es war also ganz gut, dass im großen Sommer die Fans immer so laut geschrien haben. Da bekam man die schmutzigen kleinen Details nicht so mit.

© SZ vom 9.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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