Winnenden:Das Trauma der Helfer

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Beispiel Winnenden: Die Ersthelfer haben unter schwierigen Bedingungen am ersten Tatort gearbeitet. Nun stellt sich die Frage: Wer schützt und betreut eigentlich die Rettungskräfte?

Werner Bartens

Der 11. März 2009 im schwäbischen Winnenden. Zwei Notarztwagen, die sich zufällig in der Nähe befinden, werden zur Albertville-Realschule beordert. Dort waren Schüsse gefallen. Die Ersthelfer betreten das Gebäude, finden tote und verwundete Schüler, versuchen zu retten, zu helfen, zu trösten - ohne zu wissen, ob der Tatort gesichert ist.

Tatort Winnenden: Die Helfer werden noch lange benötigen, um die Geschehnisse verarbeiten zu können. (Foto: Foto: dpa)

Keinem der Helfer ist klar, ob sich der Täter noch in der Schule befindet. "Dieses unsichere Gefühl, ausgeliefert und schutzlos zu sein, kann weitaus belastender sein, als erschossene und tote Menschen zu sehen", sagt der Traumaexperte Martin Sack von der Psychosomatischen Klinik der Technischen Universität München. "Mit dem Anblick von Opfern rechnen professionelle Helfer ja."

Erst als die Ärzte das Gebäude mit verwundeten und verstörten Schülern und Lehrern wieder verlassen, kommen ihnen vermummte und bewaffnete Einsatzkommandos entgegen. "Die Helfer kamen sich dadurch noch schutzloser und ausgelieferter vor", sagt Sack, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT). Erst einige Zeit später stellte sich heraus, dass der 17-jährige Täter nicht mehr im Gebäude war, als die Ärzte dort eingetreten waren. Später wurde bekannt, dass der Amokläufer in Winnenden 13 Menschen getötet hatte. Während seiner Flucht nach Wendlingen starben drei weitere Menschen, unter ihnen der Täter selbst.

"Überschwemmt von Gefühlen"

Für die Mediziner waren die belastenden Ereignisse an diesem Tag aber noch nicht vorbei. Nachdem die Ärzte Verletzte in die Klinik begleitet hatten, wurden einige von ihnen zum nächsten Einsatz beordert: Traumatisierte Schüler, Lehrer und Angehörige waren zu betreuen. "Das war viel zu viel, sich das auch noch anhören zu müssen", sagt Martin Sack. "Man wird dann überschwemmt mit verstörenden Gefühlen."

Der Psychotherapeut hat Ersthelfer von Winnenden betreut, die unter den Folgen der Traumatisierung leiden. Im Chaos der Katastrophe habe offenbar keiner gefragt, wie es den Rettungskräften gehe. Am Abend wurden sie dann im Rahmen eines sogenannten Debriefings aufgefordert, in einer Runde mit sechs oder sieben Kollegen zu erzählen, was sie tagsüber erlebt hatten. Ein Religionslehrer fungierte als Notfallseelsorger.

"Es geht nicht darum, im Nachhinein Vorwürfe zu erheben", sagt Martin Sack. Aber es sei absolut nicht sinnvoll, wenn traumatisierte Menschen sofort nach dem Ereignis sich gegenseitig ihre belastenden Erlebnisse mitteilen. "Man muss ja schon den eigenen Film verarbeiten. Die Bilder der anderen können dann viel zu viel sein." Nach einer furchtbaren Erfahrung kann für jeden Beteiligten etwas anderes hilfreich sein. Wichtig ist der individuelle Zugang.

"Nicht jeder braucht es, direkt darüber zu sprechen", sagt Marion Krüsmann, Psychologin und Traumaexpertin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Manche bearbeiten ihr Trauma gut, wenn sie Ruhe und Abstand haben." Leider gibt es eine große Konkurrenz unter den Hilfsorganisationen. In vielen Fällen sind es ehrenamtliche Helfer, die unterschiedlich gut geschult sind. "Für Ausbildung und Qualitätskontrolle gibt es oft zu wenig Geld", sagt Krüsmann.

Traumaexperten wissen, dass Ersthelfer oft ihr Leben riskieren, um anderen beizustehen. "Als Rettungsassistent vor Ort würde ich auch reingehen, wenn ich weiß, da sind Verletzte, denen schnell geholfen werden muss", sagt Peter Schüßler, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Akuttrauma der DeGPT und Mitarbeiter an der Katastrophenschutzschule Rheinland-Pfalz. "Hinterher ist es aber wichtig, dass man Wertschätzung und Anerkennung vermittelt bekommt."

Kontrolle über den Alltag

Schüßler setzt wie andere Traumaexperten auf Psychoedukation. Dazu gehört, den Betroffenen zu vermitteln, mit welchen Beschwerden sie rechnen können, ihnen vor allem aber zu vermitteln, wie sie Kontrolle über ihren Alltag zurückgewinnen. Wichtige Entscheidungen sollten direkt nach einem belastenden Erlebnis nicht getroffen werden, Sport tue dann oft gut. "Die Leute sollen sich belohnen, aber auch Grenzen einhalten, wenn ihnen etwas nicht guttut", sagt Schüßler. "Das vermittelt ihnen: Du bist kein hilfloser Helfer, sondern kannst selbst etwas tun."

Nach psychisch belastenden Einsätzen entwickeln etwa ein bis drei Prozent der beteiligten Helfer eine Traumafolgestörung. In den ersten Tagen und wenigen Wochen danach unruhig und reizbar zu sein und Schlafprobleme zu haben, ist aus Sicht von Traumaexperten noch kein Anlass zur Besorgnis. In dieser Zeit muss das Erlebte auch nicht in Gesprächen aufgearbeitet werden, wenn dem Betroffenen nicht danach ist. "Normalerweise ist es ja gut, wenn man ein belastendes Ereignis wegschiebt", sagt Marion Krüsmann. "Verschwinden die Albträume jedoch gar nicht, hilft nur die Auseinandersetzung mit dem Ereignis." Die posttraumatische Belastungsstörung ist dadurch charakterisiert, dass auch Wochen nach dem Ereignis quälende Erinnerungen immer wiederkommen, Betroffene unruhig sind und bestimmte Orte, Gedanken oder Gefühle vermeiden.

Keiner der Traumaexperten will das Vorgehen in Winnenden kritisieren. "Katastrophen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass es chaotisch ist und in den ersten Stunden vieles unstrukturiert abläuft", sagt Krüsmann. "Und die Helfer machen einen tollen Job." Martin Sack fordert ein Umdenken: "Man darf nicht übersehen, dass auch die Einsatzkräfte Schutz und Fürsorge brauchen", sagt er. "Natürlich gehört es zum traditionellen Selbstbild vieler Helfer, nach vorne zu rennen, auch wenn es brennt."

"Wer seine Gesundheit und sein Leben riskiert, um anderen zu helfen, muss auch das Gefühl haben, geschützt zu werden", sagt Sack. Irritierend sei die Ansprache von Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger gewesen, der die Ereignisse zu beschreiben versuchte, obwohl er nicht involviert war. "Den Helfern in Winnenden stieß das bitter auf", sagt Martin Sack. "Sie hatten da wohl erst recht das Gefühl, verheizt und alleingelassen zu werden, als er sich dazu äußerte, wie schlimm alles war."

© SZ vom 30.4.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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