In der Oper wurde "die verkaufte Braut" gegeben. Es war hübsch und harmlos, die Leute klatschten zögerlich. Es dauerte auch nicht lange, und man hatte, nach einem Blick auf die grandios goldene Opernfassade noch Zeit, vor Mitternacht mal wieder in Harry's Bar zu gehen.
Harry's New York Bar, so der offizielle Name, ist angeraten, wenn einem in Paris der Sinn nach amerikanischem Ambiente steht. Auf ihre Art ist Harry's Bar trotzdem typisch Pariserisch, jedenfalls für Amerikaner, die über kurz oder lang alle die "älteste Cocktailbar Europas" aufsuchen.
In der Rue Daunou haben sie hereingeschaut: Humphrey Bogart, der ein oder andere Box-Champion, Ernest Hemingway natürlich, der Paris geliebt und auf seine Weise amerikanisiert hat. Außerdem soll, welch großartiges Klischee, George Gershwin hier zumindest Teile seines "Amerikaner in Paris" komponiert haben.
Und wenn fern zwischen Washington und Florida Wahlkampf ist, dann wird in Harry's Bar traditionell zur Probe abgestimmt. An der Theke stehend leistet man sich vielleicht einen Bloody Mary, um Barack Obamas Sieg vorauszukosten. Sie wissen schon: Wodka, Tomatensaft, Worcestersauce ..., der Cocktail ist hier erfunden worden.
Ein Gast gesellte sich zu uns, James hieß er, wohnte "gleich um die Ecke", stammt aus Colorado, sprach nach sieben Jahren Paris ausschließlich Englisch. "Wie geht das mit dem straw vote?", fragte er Laurent, den Barmann. Ganz einfach: Jeder Amerikaner kann in Harry's Bar einen Stimmzettel in eine große Wahlurne werfen, die nach Feierabend geleert wird. Alle vier Jahre wird da diese solide Holzkiste aufgestellt mit der Aufschrift Harry's N.Y. Bar 5, rue Daunou PARIS U.S. Presidential Straw Vote.
Die demokratische Klientel
James aus Colorado zeigte einen Ausweis und bekam einen Stimmzettel. Der Zwischenstand am Dienstagabend, mit Kreide an die Spiegel geschrieben, lag bei 137 zu 187 - für wen, muss wohl kaum mehr gesagt werden. Nach der ersten Auszählung Anfang Oktober hatte es noch krasser ausgesehen, da stand es 20 zu zwei für Barack Obama.
"Unsere Klientel neigt eher zu den Demokraten," sagt der Patron der Bar, Alain Da Silva. Das ist allerdings nicht immer so gewesen. Seit 1924 wird nun schon zur Probe abgestimmt und man lag, abgesehen von zwei Ausrutschern, stets richtig.
James aus Colorado hat keine Einwände, sich beim Ausfüllen seines Wahlscheins zuschauen zu lassen. Selbstverständlich kreuzt er Obama an und er erzählt zwei, drei Dinge, die er gegen John McCain hat. Da sei einmal dieser Sparkassenskandal in den achtziger Jahren gewesen, als viele kleine Leute um ihre Ersparnisse gebracht wurden ... Außerdem sei die Geschichte des Kriegshelden auch nicht ganz lupenrein. Andererseits, wer will da rechten, wenn er, wie James, gerade 50 ist und nicht in Vietnam war.
Die beiden Kandidaten sind allgegenwärtig. Stehen als Puppen zwischen Whisky-Flaschen, zwei große Poster schmücken die Wand mit der imposanten Spirituosen-Galerie. McCains Bild ist über dem Schild "Probieren Sie unsere Hotdogs" platziert. Bei den Gästen, ob Amerikaner oder nicht, fällt auf: Käme McCain herein, würde er das Durchschnittsalter sofort hochtreiben, während sich Obama in einer gewohnten Rolle wiederfände, als Einziger von nichtweißer Hautfarbe. In Frankreich, in einem Etablissement dieser Preisklasse, ist das normal.
James aus Colorado verdient gut, klagt nur mäßig darüber, dass er sowohl in Frankreich als auch in den USA Steuern bezahlen muss. Vor vier Jahren hat er John Kerry gewählt, den Verlierer. Auch in Harry's Bar haben sie vor vier Jahren mit großer Mehrheit für Kerry gestimmt. Auf den straw poll ist also nicht immer Verlass. Das wäre, nach den gefühlten Mehrheitsverhältnissen in Harry's Bar und überhaupt, der Strohhalm für McCain.