Vatikan:Der Papst und das verschwundene Mädchen

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"Wenn das ihre Knochen sind, wäre das, als sei sie heute gestorben“: Pietro Orlandi, der Bruder des 1983 im Vatikan verschwundenen Mädchens. (Foto: Fabio Frustaci/AP)

In der vatikanischen Botschaft in Rom ist ein Skelett entdeckt worden. Handelt es sich um Emanuela Orlandi? Der Fall ist eines der großen, ungelösten Mysterien der italienischen Kriminalgeschichte.

Von Oliver Meiler, Rom

Noch ist nichts klar, aber das spielt in diesem Fall keine Rolle. Schon ein dürres Bulletin aus dem Vatikan sorgt für viel Aufregung. Für seitenfüllende Berichte in den italienischen Zeitungen, für Theorien und Thesen, alte und neue, unselige und unbeichtbare.

Und das ist ja kein Wunder. Im Wächterhäuschen der Villa Giorgina an der römischen Via Po haben vier Bauarbeiter, die dort den Boden renovieren sollten, unter den aufgebohrten Fliesen eine ganze Menge menschlicher Knochen gefunden. Ein Skelett ist fast intakt. Die Gebeine sind von einer Frau. Gleich daneben fanden sich Knochenfragmente einer zweiten Person. Nun liegen die Gebeine in der gerichtsmedizinischen Abteilung der römischen Kriminalpolizei. Die analysiert das Genmaterial und wird Namen nennen, wahrscheinlich schon in den kommenden Tagen. Sollte einer dieser Namen Emanuela Orlandi sein, so viel lässt sich schon sagen, dann hat die skandalgeschüttelte katholische Kirche ein Problem mehr.

Das Mädchen mit dem Stirnband

Die Villa Giorgina an der Via Po ist nämlich Sitz der Apostolischen Nuntiatur, der vatikanischen Botschaft in Italien. Und das Schicksal von Emanuela Orlandi, die vor 35 Jahren, als sie 15 war, spurlos verschwand, ist eines der großen, ungelösten Mysterien der römischen Kriminalgeschichte. Als der Vatikan vor einigen Tagen in seinem "Bollettino" an die Presse den Knochenfund in der Nuntiatur bekannt gab, da dachten die Italiener kollektiv an das Mädchen mit dem Stirnband. So sieht man sie auf dem letzten Foto, das es von ihr gibt: hübsch, lächelnd, ein Stoffstreifen bändigt das Haar. Das Bild ist zur Ikone geworden.

Emanuela Orlandi war die Tochter eines Kammerdieners von Papst Johannes Paul II., sie wohnte mit der Familie im Vatikan. Am 22. Juni 1983, um 19.30 Uhr, nach ihrer Flötenstunde in der Basilika Sant' Apollinare bei der Piazza Navona, verschwand das Mädchen. Sie hatte noch zu Hause angerufen, eine ihrer Schwestern ging ran. Eine Kosmetikfirma, sagte sie am Telefon, habe ihr Geld angeboten fürs Verteilen von Werbeprospekten. "Wir sehen uns später." Danach verliert sich die Spur. Einige Monate zuvor war schon ein anderes 15-jähriges Mädchen, Mirella Gregori, einfach so verschwunden. Doch richtig viel Beachtung fand nur der Fall von Emanuela Orlandi, eben weil ihr Vater ein Angestellter im päpstlichen Haushalt war, ein Vertrauter des polnischen Papstes.

Johannes Paul II. steigerte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit damals zusätzlich mit einem denkwürdigen Aufruf. "Ich gebe die Hoffnung nicht auf", sagte er beim Angelusgebet zehn Tage nach dem Verschwinden des Mädchens, "dass in den Leuten, die für diesen Fall verantwortlich sind, etwas Menschlichkeit wohnt." Es hörte sich so an, als wüsste er mehr. War Emanuela entführt worden? Wurde der Papst erpresst? Und wenn ja: von wem und warum?

Nach einer Theorie wurde sie in einen Betonmischer geworfen

1983, das war mitten im Kalten Krieg, einer Zeit voller Spannungen und Spionagegeschichten. Der Papst der Öffnung aus dem Osten, Geheimdienste aus allen möglichen Ländern - vielleicht war das eine Fährte. Dann, nach anonymen Anrufen eines gewissen "Americano", der so genannt wurde, weil er mit amerikanischem Akzent sprach, bekam eine andere These Gewicht. "L' Americano" behauptete, er wisse, wo Emanuela festgehalten werde, und forderte den Vatikan auf, Verhandlungen aufzunehmen. Ziel war es angeblich, Ali Ağca freizupressen, den türkischen Papstattentäter. Der saß damals seit zwei Jahren im Gefängnis, nachdem er auf Johannes Paul II. geschossen hatte.

Die italienischen Geheimdienste wollen in der Folge herausgefunden haben, dass es sich beim "Americano" um Monsignore Paul Marcinkus gehandelt hat, eine schillernde Figur, einst Chef der vatikanischen Bank IOR (Instituto per le Opere di Religione). So steht es in einem Geheimreport, der 1995 durch ein Leak publik wurde. Unter Marcinkus' Führung operierte das IOR im Schatten, wusch Geld für die Mafia. Dann trat in einer TV-Sendung die ehemalige Geliebte des Mafioso Enrico "Renatino" De Pedis auf, Chef der römischen "Banda della Magliana". Renatino, erzählte sie, habe Emanuela im Auftrag von Marcinkus entführt, weil dieser dem Papst in einem größeren Gerangel um Macht und Geld ein Signal senden wollte. Das Mädchen sei nach acht Monaten Geiselhaft ermordet und in einen Betonmischer geworfen worden.

Emanuela Orlandi wäre heute 50 Jahre alt

Als der Boss 1990 starb, wurde er unter der Basilika Sant'Apollinare bestattet, ein posthumes Privileg, das sonst hohen Prälaten vorbehalten sein sollte. Doch Renatino hatte einen einflussreichen Fürsprecher: Don Pietro Vergari, der langjährige Rektor der Basilika, war auch sein Kaplan im Knast, sein Freund. Vergari behauptete, der Boss habe zeit seines Lebens den Armen geholfen. Als De Pedis 2012 exhumiert wurde, fanden die Ermittler unter der Kirche auch andere Gebeine. Schon damals war die Aufregung groß, weil man dachte, es könnten Knochen von Emanuela Orlandi dabei sein, der verschollenen Musikschülerin aus der Basilika.

Nun, sechs Jahre danach, wiederholt sich die Geschichte. Die Medien zeigen wieder das Foto mit dem Haarband.

Emanuela Orlandi wäre heute 50 Jahre alt. Ihr Bruder Pietro sagt: "Wenn das ihre Knochen sind, wäre das, als sei sie heute gestorben." Der Steinboden im Wächterhäuschen der Villa Giorgina übrigens war in den 1980er-Jahren zum letzten Mal frisch gelegt worden. Wann genau, ist noch nicht bekannt. 1983? Die Polizei bat den Vatikan, ihr die Daten zu den Renovierungsarbeiten zu geben. Denn, nun ja, selbst wenn es nicht Emanuela Orlandi oder Mirella Gregori waren, die da begraben lagen: Es bleiben trotzdem menschliche Gebeine, die man unter der Apostolischen Nuntiatur fand.

© SZ vom 03.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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