Als das alte Braunsbach aufhörte zu existieren, stand Bürgermeister Frank Harsch am Fenster in seinem Büro und blickte nach draußen. Es war kurz nach acht Uhr abends, Harsch kann sich nicht erinnern, schon einmal so starken Regen erlebt zu haben. Immer mehr Wasser floss am Rathaus vorbei die Straße hinab, Autos wendeten, ein Motorradfahrer kam nicht mehr vorwärts und auch nicht mehr zurück. Harsch rief ihm zu, er solle heraufkommen und die Maschine auf die Anhöhe direkt vor das Rathaus stellen. Minuten später sahen beide, wie das Motorrad davonschwamm.
Frank Harsch wählte den Notruf. Im Erdgeschoss drückte das Wasser die Scheiben ein. Dann riss die Flut Harschs Auto vom Rathaus-Parkplatz. Als der Regen nachließ, stapfte Frank Harsch über eine höher gelegene Straße zum Marktplatz. Aber der Marktplatz, wie Harsch ihn kannte, war nicht mehr da.
An diesem Montag ist all das genau ein Jahr her, Braunsbach, eine kleine Gemeinde im Nordosten von Baden-Württemberg, wurde am 29. Mai 2016 Opfer eines schweren Unwetters, wie auch andere Dörfer und Kleinstädte damals. Der Regen verwandelte zwei Bäche in Ströme, Handyvideos zeigen, wie das Wasser alles mit sich reißt, Bäume, Autos, ganze Straßen. Es gab keine Verletzten oder Toten, aber Schutt und Geröll türmten sich meterhoch, zahlreiche Häuser wurden zerstört.
Jetzt, im Frühling 2017, sitzt Bürgermeister Harsch an seinem Schreibtisch im Rathaus und unterschreibt Dokumente. Förderantrag für Brücken: 400 000 Euro. Förderantrag für Radwege: 200 000 Euro. Rechnung aus dem Kindergarten: 4,95 Euro. Die Wände um ihn herum sind leer. Von vielem hat er sich getrennt, als sein Büro nach der Flut renoviert werden musste; das Wasser war damals zwar nicht bis in den ersten Stock gekommen, dafür aber viele Menschen mit dreckigen Schuhen in den Tagen danach.
Nebenan klopfen und hämmern die Handwerker noch immer. Die beiden Türen sind geschlossen, trotzdem macht es der Lärm schwierig, sich zu konzentrieren. Von seinem Arbeitsplatz aus blickt Harsch auf aufeinander getürmte Schreibtische aus anderen Büros, auf Kartons voller Aktenordner, Computer und Telefone. Wohin sonst mit all dem Zeug während der Bauarbeiten? Auf dem runden Konferenztisch in der Mitte des Raums liegt der Spendenscheck eines Dartklubs über 5000 Euro für die Hochwasseropfer. Harsch hat ihn am Abend zuvor entgegengenommen. Noch immer gehen fast täglich Spenden ein.
Frank Harsch, 46, in der Nähe von Stuttgart geboren, ist seit 13 Jahren Bürgermeister von Braunsbach. 2004 stellte sich der Diplombetriebswirt als parteiloser Außenseiter zur Wahl und erhielt die Mehrheit, 2012 wählten ihn die Braunsbacher in eine zweite Amtszeit. Damals nahm Harsch sich vor, ein interkommunales Gewerbegebiet zu erschließen, Windräder sowie ein Pflegeheim zu bauen und den Ortskern zu sanieren; was man halt so macht, als Bürgermeister einer Kleinstadt. Jetzt aber ist die Geschichte von Frank Harsch und seiner Gemeinde sinnbildlich dafür, wie sich alles in einer Nacht verändert, wirklich alles, wenn die Natur eingreift. Frank Harsch ist seitdem kein Provinzbürgermeister mehr, sondern ein Vollzeit-Krisenmanager.
Der Innenminister versprach schnelle Hilfe
Am Morgen nach der Flut meldete sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann und kündigte seinen Besuch an. Geschlafen hatte Harsch zu diesem Zeitpunkt seit über 24 Stunden nicht mehr. Seinen für den Sommer geplanten Wanderurlaub in Polen und der Slowakei sagte er ab.
Kretschmann brachte damals Innenminister Thomas Strobl mit nach Braunsbach. Die beiden Politiker mussten das letzte Stück zu Fuß gehen, mit dem Auto war der Ort auch zwei Tage nach der Katastrophe nicht erreichbar. Sie stapften über Holzbretter durch den Schlamm, machten sich, wie es so schön heißt, ein Bild von der Lage. An ihren Anzügen klebten Dreckspritzer bis hinauf zu den Schultern. Strobl versprach schnelle Hilfe, Kretschmann bat um Geduld, ohne Bürokratie gehe es nicht.
100 Millionen Euro, auf diese Summe schätzen Experten die Flutschäden in der Gemeinde. Braunsbach erhält für den Wiederaufbau Zuschüsse aus verschiedenen Fördertöpfen, das Land Baden-Württemberg hat Sondermittel in Höhe von 10,6 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aber Harsch ist sicher, dass dieser Betrag nicht ausreichen wird, um alle Schäden zu beheben. Er verhandelt noch immer mit dem Regierungspräsidium über weitere Hilfsgelder. Springe das Land nicht ein, sagt er, werde der Wiederaufbau kaum gelingen.
Mit den Politikern kamen auch die Medien nach Braunsbach. Das kleine Dorf und sein Bürgermeister erhielten plötzlich weltweit Aufmerksamkeit. Als Harsch der britischen BBC ein einstündiges Interview auf Englisch geben musste, schlug er vorher noch einige Begriffe im Wörterbuch nach. Sogar das chinesische Fernsehen schickte ein Kamerateam. Schon vor den Journalisten waren die freiwilligen Helfer in der zerstörten Ortschaft, täglich über 500, auch Flüchtlinge. Ein junges Paar aus Stuttgart nahm Urlaub und fuhr in der ersten Woche an jedem Morgen nach Braunsbach, das Auto jedes Mal voller Essen für die Helfer. Den ganzen Tag schufteten sie auf den Straßen im Dorf und in den Kellern fremder Menschen. In dieser Zeit, sagt Harsch, habe er den Glauben an den Zusammenhalt in der Gesellschaft wiedererlangt. Die freiwilligen Helfer schafften 50 000 Tonnen Schutt und Geröll aus dem Dorf.
Wohin der ganze Schutt soll, das weiß niemand
Vieles reparierten die Braunsbacher damals provisorisch, um möglichst schnell wieder in ihren Häusern leben zu können. Seit Kurzem sind die Bagger zurück. Straßen müssen erneut aufgerissen, Leitungen verlegt, Wege gepflastert werden. In der Klinge oberhalb von Braunsbach, von wo die Flut kam, liegen noch immer große Mengen Steine und Holz. Sie müssen entfernt werden, um bei einem weiteren Hochwasser nicht ins Dorf gespült zu werden. Doch wohin mit dem Schutt? Der Erdauffüllplatz der Gemeinde ist randvoll, und eine Entsorgung ist zu teuer.
In einem Baucontainer neben dem Friedhof sitzt Harsch nun mit Ingenieuren beisammen und grübelt. Die Runde beschließt, die Försterin mit der Suche nach einem geeigneten Platz im Wald zu beauftragen. Jeden Dienstag kommen Harsch und andere Entscheidungsträger im Baucontainer zusammen. Sie klären immer neue Fragen. Wann muss welche Straße im Dorf gesperrt werden? Mit welchen Steinen sollen die Gehwege gepflastert werden? Bezahlt die Gemeinde die neuen Wasserleitungen bis zu jedem Haus oder nur bis zur Grundstücksgrenze? Harsch hat sich in den vergangenen Monaten in viele Themen eingearbeitet, von denen er nie gedacht hatte, je darüber Bescheid wissen zu müssen. Die Gemeinde Braunsbach hat kein eigenes Baureferat.
Etwas später sieht sich die Gruppe den Fortschritt der Bauarbeiten auf einer schmalen Hangstraße oberhalb von Braunsbach an. Harsch blickt über das idyllische Tal hinweg zur Kochertalbrücke, der höchsten Deutschlands, dem Wahrzeichen seiner Gemeinde. Er schlägt vor, einen Aussichtspunkt zu schaffen und eine Parkbank aufzustellen. Die Ingenieure und Bauleiter sehen ihn verdutzt an. Meint er das ernst? Harsch meint es ernst. Er bittet darum, zu prüfen, ob sich seine Idee schnell und ohne große Mehrkosten umsetzen lässt. Er betrachtet die Flut auch als Chance. Er sagt: "Es gibt keine Alternative zum Optimismus. Wir müssen jeden Tag kreativ sein und auch Möglichkeiten nutzen, von der Katastrophe zu profitieren." Die Menschen sollen Braunsbach nicht auf ewig nur mit der Flut verbinden, sondern damit, was aus dem Ort geworden ist. Nahwärme für die öffentlichen Gebäude, Breitbandinternet, moderne Straßenbeleuchtung, eine neue Wasserversorgung, mehr Parkplätze: All das wird es geben.
Nicht alle Menschen sind begeistert von den Ideen ihres Bürgermeisters. Einige wollen die Katastrophe einfach vergessen; dass alles wieder so wird, wie es war.
Zurück im Dorf halten Harsch und die Bauplaner vor dem Lebensmittelgeschäft mit Bäcker- und Metzgertheke am Marktplatz. Nach monatelanger Sanierung wurde das eigentliche Zentrum des Braunsbacher Dorflebens im Februar wiedereröffnet. Nach der Flut gab es nur diesen sechs mal vier Meter großen Holzpavillon, der jetzt auf dem Marktplatz steht, er war damals der Treffpunkt der Braunsbacher, als alle Läden geschlossen hatten. Nun soll er zum Informationszentrum werden. "Die Menschen, die uns nach der Flut geholfen haben und wiederkommen, wollen eine Anlaufstelle haben", sagt Harsch. Einheimische und Touristen sollen außerdem nachlesen können, was passierte, an jenem Abend im Mai 2016.
Harsch kauft ein Fleischküchle im Weckle und ein Plundergebäck. Auf Dauer nicht das Wahre, sagt er, aber bald mache ja der Gasthof auf der anderen Straßenseite wieder auf.