Amokfahrt in Trier:Der rasende Tod

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Am Morgen kommen Menschen vor der Porta Nigra zusammen, manche legen Blumen nieder, zünden Kerzen an. (Foto: Lukas Schulze/Getty Images)

Achthundert Meter fuhr ein 51-Jähriger durch die Fußgängerzone von Trier und tötete fünf Menschen. Am Tag danach zeigt sich die älteste Stadt Deutschlands immer noch traumatisiert, aber auch voller Stärke und Zusammenhalt

Von Matthias Drobinski, Trier

Nirgendwo war dieser Termin angekündigt, und doch hat er sich herumgesprochen. Die Trierer sind ja sowieso den ganzen Morgen über zur Porta Nigra gekommen, einzeln und in Scharen, als es noch dunkel war, im trüben Morgenlicht. Haben Kerzen angezündet, Blumen abgelegt, Stofftiere an die Steine des 1800 Jahre alten Bauwerks gelehnt - was man so tut, wenn sonst nichts zu tun bleibt und man wenigstens zeigen möchte: Das lässt mich nicht kalt.

Am Dienstag, um 13.46 Uhr, ist ein 51 Jahre alter Mann mit einem schweren Geländewagen bei der Basilika in die Fußgängerzone eingebogen und bis zur Porta Nigra gerast und noch weiter, 800 Meter im Zickzack, um möglichst viele Menschen zu überfahren. Fünf der Getroffenen sind tot, darunter ein Baby von neuneinhalb Wochen und sein Vater; die Mutter und ein weiteres Kind liegen im Krankenhaus. Drei der 14 Verletzten kämpfen um ihr Leben. Dutzende Augenzeugen sind traumatisiert. Trier ist mit 120 000 Einwohnern eine Großstadt, aber immer noch überschaubar genug, als dass nicht fast jeder einen kennen würde, der dabei war, als der Schrecken über die Stadt kam.

Jetzt ist es halb elf Uhr und tausend und mehr Menschen haben sich vor dem schwarzen Tor aus der Römerzeit versammelt. Zwei Ständer mit Kränzen stehen da, links und rechts haben sich Feuerwehrleute aufgestellt und rücken die Hüte zurecht. Bürgermeister Wolfram Leibe ist da, groß, schmal, weißhaarig, und Ministerpräsidentin Malu Dreyer ist da, sie wohnt mit ihrem Mann, dem Ex-OB Klaus Jensen, in Trier. Der evangelische Superintendent Jörg Weber und der katholische Weihbischof Franz Josef Gebert sind gekommen.

Trauerrituale versuchen, das Unfassbare in eine Form zu fassen und zu vergemeinschaften: Man ist nicht mehr allein mit dem Riss, den eine solche Tat ins Leben reißt. Besonders Oberbürgermeister Leibe ist anzumerken, wie sehr er selber dieses Ritual braucht. Er war am Tatort, als dort noch die Toten lagen, hat Bekannte unter den Niedergefahrenen erkannt. Er ist selber ein Traumatisierter. Er kämpft mit den Tränen, während er redet.

Triers Oberbürgermeister Wolfram Leibe spricht zu den Trauernden, auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (Mitte) wird noch das Wort ergreifen. (Foto: JEAN-CHRISTOPHE VERHAEGEN/AFP)

"Hat die Menschheit eigentlich nichts gelernt?", fragt er rhetorisch und schaut zum Römergemäuer hinter sich. Er dankt den Rettern und den Polizisten, die dafür gesorgt hätten, dass der mutmaßliche Täter bereits nach viereinhalb Minuten überwältigt gewesen sei. Er dankt den benachbarten Luxemburgern für die Hilfe. Er dankt vor allem den Trieren für die große Solidarität untereinander: Als er in die verwüstete Fußgängerzone gekommen sei, hätte er gesehen, wie viele Menschen sich um die Verletzten und Geschockten gekümmert hätten. "Trier trauert, Trier leidet, Trier resigniert aber nicht", ruft er, und erstmals rührt sich Applaus in der still stehenden Menge.

Zwei Geistliche lesen Psalm 88 vor: "Mit Leid ist meine Seele gesättigt, mein Leben berührt die Totenwelt"

Auch Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin, sucht nach Worten; keins, so sagt sie, könne Verlust und Leid ungeschehen machen. Sie sagt, dass sie für die Angehörigen der Toten und für die Verletzten bete. Sie ruft zum Zusammenhalt auf, verspricht die Hilfe des Landes für die Opfer des Verbrechens und den Aufbau einer Trauma-Ambulanz. Die beiden Geistlichen lesen Psalm 88 vor: "Mit Leid ist meine Seele gesättigt, mein Leben berührt die Totenwelt".

Warum nur geschah diese Tat? Auch fast 24 Stunden danach lässt diese Frage die Trauernden ratlos zurück. Ein politisches oder religiöses Motiv hat die Polizei schon bald, nachdem sie den Mann nach heftiger Gegenwehr festgenommen hatte, ausgeschlossen. Der leitende Oberstaatsanwalt Peter Fritzen hat am Dienstagabend das Bild eines aus Trier stammenden Einzelgängers ohne nähere Verwandte gezeichnet, der, seit einiger Zeit wohnsitzlos, zuletzt in dem von einem Bekannten geliehenen Auto übernachtet und die Tat betrunken ausgeführt hatte. Ein erstes Gespräch mit einem Arzt lege die Vermutung nahe, dass der mutmaßliche Täter psychisch krank sei.

Der Verdächtige spricht, immerhin

Eine Verzweiflungstat? Ein lange geplanter Mord, um endlich einmal Aufmerksamkeit zu erheischen? Um absoluter Herr über das Leben anderer zu sein? Den Morgen über hat ein Untersuchungsrichter den Festgenommenen vernommen. Am Nachmittag entscheidet er, dass der Mann in Untersuchungshaft kommt und nicht in die geschlossene Psychiatrie. Es bestehe der dringende Tatverdacht des Mordes in fünf Fällen, des versuchten Mordes sowie der gefährlichen Körperverletzung in 18 weiteren Fällen. Das Motiv für die Tat sei noch unklar; der Beschuldigte habe "wechselnde und in Teilen nicht nachvollziehbare Angaben" gemacht. Die Vernehmung werde fortgesetzt, ein psychiatrisches Gutachten angefordert. Momentan aber bestünden keine konkreten Anhaltspunkte "für den vollständigen Ausschluss der Schuldfähigkeit."

Der Verdächtige redet, immerhin. Das ist mehr als im Fall des Amokfahrers, der am Rosenmontag im nordhessischen Volkmarsen absichtlich in die feiernde Menge raste und sich seitdem hartnäckig ausschweigt, warum er das tat; es gab viele Verletzte, wie durch ein Wunder ist niemand gestorben. Bis heute leiden dort viele Opfer daran, dass sie nichts über das Motiv des Täters wissen.

Warum nur geschah die Tat? Ermittler gehen bislang nicht von einem politischen oder religiösen Motiv aus. (Foto: Oliver Dietze/dpa)

Das Auto als tödliche Waffe nutzen - das machen nicht nur die islamistischen Mörder in Berlin, Nizza und anderswo. Ein Jahr vor der Amokfahrt in Volkmarsen fuhr in Bottrop ein Mann in eine Menschentraube, 2018 tötete ein Mann in Münster fünf Menschen vor einer Gaststätte und erschoss sich dann selbst, 2017 starb in Heidelberg bei einer Amokfahrt ein 73-Jähriger.

Gibt es Schutz gegen solche Taten? Die Journalisten fragen das am Rande der Trauerfeier die Politiker, die Politiker seufzen und sagen etwas in der Richtung, dass man nie genug auf Sicherheit achten könne, es aber vollkommene Sicherheit nie gebe. Gäbe es keine Pandemie und damit einen Weihnachtsmarkt in Trier, hätten Betonpoller die Zufahrt zur Fußgängerzone blockiert. So war der Weg frei für den Todesfahrer. Aber kann es Lehren daraus geben?

Am Donnerstag um 13.46 Uhr sollen in Trier alle Kirchenglocken läuten, soll das öffentliche Leben noch einmal für einen Augenblick stillstehen. Das Leben in der Stadt wird danach weitergehen, die Reste der mit Kreide auf den Boden gezeichneten Körperumrisse endgültig verwaschen sein. Die Arbeit der Kriseninterventionsteams und der Opferbetreuer wird weitergehen.

Amokfahrt in Trier
:Tag des Horrors, Tag der Menschlichkeit

Nach der Amokfahrt mit fünf Toten herrscht Fassungslosigkeit in Trier. Warum fährt ein Mensch einfach andere Menschen um? Über die Trauer nach der Tat und eine bemerkenswerte Hilfsbereitschaft.

Von Matthias Drobinski

Das Leben hat die Totenwelt berührt, am Dienstag um viertel vor zwei Uhr in Trier

Eine Schulklasse entzündet Kerzen - zur Tatzeit war an den umliegenden Schulen Unterrichtsschluss und Mittagspause. Ein Vater erzählt von seinen beiden Töchtern, elf und 14 Jahre alt: Die eine sei ganz still geworden, die andere ganz aufgedreht, weil sie nichts gehört hatte von einem Klassenkameraden. Am Abend die Nachricht: Mir geht es gut, er hat mich nur am Fuß erwischt. Aber fragt nicht nach meiner Freundin.

Sie gehört zu den Schwerstverletzten. Das Leben hat die Totenwelt berührt, am Dienstag um viertel vor zwei Uhr in Trier.

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