Tokio Hotel:Schrei, so laut du kannst!

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Kreischende Mädchen, Hass-Seiten im Internet - wie Bill Kaulitz, der 16-jährige Sänger von "Tokio Hotel", mit dem phänomenalen Erfolg der Band zurechtkommt.

Tanja Rest

Noch drei Stunden bis zum ersten Beat, der Kinderwahnsinn tobt schon. Vor der Trier-Arena warten zweitausend Mädchen in Hüftjeans und Tokio Hotel-T-Shirts, die den Plakaten zufolge alle in Bill verliebt sind und von Tom ein Kind wollen, und hinter den Mädchen warten die Mamis mit dieser geduldigen Grimasse im Gesicht, die sich wohl zwangsläufig einstellt, wenn man monatelang jeden Abend dieselbe Platte hören muss; die Malteser fischen derweil die ersten Ohnmächtigen aus dem Pulk.

"Biiiiil" Kaulitz, der Sänger von Tokio Hotel auf Deutschlandtournee (Foto: Foto: dpa)

"Wennde Pech hast, wirste auch noch vollgekotzt, weil die frühmorgens schon 'nen Alcopop...", sagt ein Helfer, der Rest geht im Gekreische unter - am Fenster links ist ein schwarzer Haarschopf aufgetaucht. Das "i" in "Biiiiill!!!" eignet sich unfassbar gut zum Kreischen.

In einem ganz anderen Trakt der Arena versucht Bill Kaulitz ungefähr zur selben Zeit, die Fragen zu beantworten, die ein Hype wie der dort draußen mit sich bringt. Ist das nicht alles furchtbar schnell gegangen?

Hat er irgendwann mal Zeit gehabt, zu begreifen, was im letzten halben Jahr mit ihm passiert ist? "Naja, manchmal sitzen wir im Bandbus und wundern uns - damit hatte ja keiner gerechnet. Zum Nachdenken bin ich aber nicht groß gekommen." Kennt er sich denn selbst noch wieder? "Klar, ich hab' mich doch nicht verändert, mit 13 hab' ich schon genauso ausgesehen wie jetzt."

Fragen nach der Schattenseite des Ruhms bedeuten ihm erkennbar nichts, natürlich nicht. Weil er im Alter von sechzehn Jahren ja gerade auf der Sonnenseite angekommen ist. "Es ist total irre", sagt Bill, "einfach wunderschön. Zuerst die Single, und dann ging alles Schlag auf Schlag."

Eineiige Anschwärm-Zwillinge

Korrekter wäre es, von einer Feuerwerksrakete zu sprechen, die im Sommer 2005 von vier minderjährigen Jungs aus Magdeburg gezündet wurde und seither ungebremst in den Pophimmel schießt.

Der Song "Monsun" schaffte es auf Anhieb auf Platz eins der Charts, das Album "Schrei" ist bisher 400.000 Mal verkauft worden. Tokio Hotel bekamen zwei Cometen und einen Bambi, für den Echo sind sie nominiert. Einen solchen Sprint hat es in der auf Kurzstrecke spezialisierten Musikbranche schon lange nicht mehr gegeben.

Die "Schrei"-Tournee 2005 ist inzwischen nahtlos in "Schrei 2006" übergegangen: 25 Gigs in bis zu 14.000 Jubelplätze großen Hallen, die innerhalb weniger Tage so gut wie ausverkauft waren. Georg (Bass), Gustav (Schlagzeug) sowie die eineiigen Anschwärm-Zwillinge Tom und Bill Kaulitz (E-Gitarre & Gesang) waren 13 Mal auf dem Cover der Bravo, und wenn Bill an dieser Stelle höflich anmerkt, "dass Nena mindestens genau so viele Bravo-Titel hatte wie wir", dann ist das nur auf den ersten Blick absurd. Nena war 30 Mal auf dem Titel der Bravo. Aber sie hatte fünf Jahre Zeit dafür.

Peter Pan auf Punk

Längst boomen im Internet auch die Hass-Seiten, was Bill in Ordnung findet. "Wenn jemand sagt, ich bin über 20, für mich ist das Kindermusik, okay, ist das halt seine Meinung, ich find' ja auch nicht alles gut."

Der Sänger von Tokio Hotel ist ein bleistiftdünnes Wesen von anmutigster Mädchenhaftigkeit, er hat eine Ausschüttung von circa 300 atemlosen Silben pro Minute und ein Outfit, das man als visuelles Gesamtkunstwerk bezeichnen muss.

Bill Kaulitz trägt an diesem Tag: kniehohe Schaftturnboots, Baseball-Kappe, tiefsitzende Cargo-Jeans, einen grinsenden Totenkopf als Gürtelschnalle, Augenbrauen-Piercing, viel schwarzen Kajal, und wenn er die schwarzlackierten Fingernägel einmal sinken lässt, klackern vier schwere Silberringe auf die Resopal-Tischplatte. Peter Pan auf Punk.

Es kostet nicht viel Phantasie, sich die Ankunft von Bill und seinem Bruder Tom - die Hip-Hop-Version seiner selbst - im 850-Einwohner-Ort Loitsche bei Magdeburg vorzustellen. Ende der Neunziger, sie waren acht Jahre alt und sahen damals schon "anders aus als die Leute in unserem Alter", wie Bill sagt. "Die Kids dort haben sich getroffen, um die Gummibärenbande nachzuspielen. Tom und ich sind in den Probenraum gegangen."

Mit neun spielten die Zwillinge ihre ersten Songs auf Dorffesten, mit zwölf lernten sie in einem Magdeburger Musikschuppen die Gleichaltrigen Georg und Gustav kennen und gründeten die Band "Devilish". Und genau an diesem Ort, im Live-Club "Gröninger Bad", hat sie zwei Jahre später der Musikproduzent Peter Hoffmann entdeckt.

Die Plattenfirma Universal lässt seither keine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass es sich diesmal nicht um eine gecastete Plastik-Combo handelt. Tatsächlich sind Tokio Hotel noch viel besser zu vermarkten: vier Jungs aus dem Osten, die seit fünf Jahren zusammen Musik machen und anstelle von Kuschelpop wehmütig-wütenden Teenie-Deutschrock spielen, das hat den Geruch des Authentischen, das kommt bei der Zielgruppe derzeit wahnsinnig gut an.

"Du stehst auf und kriegst gesagt wohin du gehen sollst / wenn du da bist hörst du auch noch was du denken sollst / danke das war mal wieder echt 'n geiler Tag" - welcher 14-Jährige könnte das nicht aus vollem Herzen mitschreien?

"Bitte nicht klingeln"

Am Gartenzaun der Familie Kaulitz in Loitsche hängt jetzt ein Schild, auf dem steht, dass Fans bitte nicht mehr klingeln sollen. Seit einem halben Jahr bekommen die Jungen Privatunterricht, weil der Wirbel am Gymnasium zu groß geworden ist.

Bill sagt, dass er die Leute bittet, sein Privatleben zu respektieren - "vor allem, wenn ich grad irgendwo sitze und essen will". Richtig genervt klingt es nicht. Der Erfolg ist noch frisch und berauschend, er spült täglich Hunderte Liebesbriefe in die Mailbox und Tausende Mädchen in die Konzerte, "und das war es doch, was wir immer wollten, in ausverkauften Hallen spielen!"

Zwei Stunden später beginnt der Auftritt in der Trier-Arena, in dessen Verlauf 240 Mädchen umkippen werden. Die "Schrei"-Tour macht ihrem Namen Ehre - jede Bewegung des wie ein Flummiball über die Bühne hüpfenden Sängers löst ein heilloses Gekreische bis hin zu spasmischen Weinkrämpfen aus.

Hinterm Absperrgitter stellt sich die 13-jährige Tamara eine verzweifelte Frage: "Auf seiner Homepage steht, jedes Mädchen in der ersten Reihe könnte seine große Liebe sein. Aber wie will er die denn kennenlernen?"

"Klar kann alles im Sommer wieder vorbei sein", hat der Tokio-Hotel-Frontjunge noch gesagt. "Aber wir haben schon vor fünf Leuten gespielt und würden das auch wieder tun." Das behauptet sich so leicht. Für Bill Kaulitz hat es sich in diesem Moment wohl wie die Wahrheit angefühlt.

© SZ vom 21.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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