Titanic:Die letzte Zeugin

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Lillian Asplund überlebte den Untergang des Luxusliners. Nun starb die Frau mit der bewegenden Biografie im Alter von 99 Jahren in den USA.

Martin Zips

Es war Lillians letzter Blick auf ihren Vater Charles, den Zwillingsbruder Carl und die beiden älteren Brüder. Am 15. April 1912 um 2.20 Uhr morgens riss die Titanic auch diese vier Menschen mit sich in die eisige See. Lillian, fünfeinhalb Jahre alt, hatte kurz zuvor neben ihrer Mutter Selma und dem Bruder Felix einen der letzten Plätze im Rettungsboot ergattert. Der Vater und ihre Brüder blieben an Bord zurück. Die Boote fassten kaum ein Drittel der 2200 Menschen.

Ihr Leben lang, so Lillian Asplund, sei sie von diesem Blick auf Vater und Brüder "überfallen" worden. Wie die Gitter eines Verlieses muss das Schiffsgeländer vom Rettungsboot aus auf das kleine Mädchen gewirkt haben. Lillian, ihre Mutter und der drei Jahre alte Bruder gehörten zu den 712 Geretteten der Katastrophe. Jetzt ist Lillian Asplund im Alter von 99 Jahren in den USA gestorben.

Mit ihr verschwinden die letzten authentischen Erinnerungen an das Unglück. In penibel geführten Passagierlisten, die Titanicverrückte im Internet unterhalten, tauchen nun noch zwei Überlebende auf: Barbara West, die zehn Monate und 22 Tage jung war, als ihre Mutter mit ihr in ein Rettungsboot stieg; Ende Mai feiert sie in England ihren 95. Geburtstag. Und Elizabeth Gladys Dean, die mit damals zwei Monaten jüngste Titanic-Reisende. Gelegentlich sah man die Frau aus Southampton bei Ausstellungen oder Filmpremieren zum Thema. Doch West und Dean waren beim Unglück einfach noch viel zu jung, um von eigenen Erfahrungen zu berichten.

Asplunds waren Passagiere des unteren Decks

Anders Lillian Asplund, die als Tochter schwedischer Einwanderer 1906 in Worcester, Massachusetts, zur Welt gekommen war. Nach dem Tod des Großvaters in Småland kehrte Lillians Vater 1907 mit Frau und Kindern nach Schweden zurück. Dort musste der Nachlass verwaltet und die Großmutter gepflegt werden.

Auf der Rückreise fünf Jahre später betrat Familie Asplund die angeblich unsinkbare Titanic, die von Pier 10 in Southampton zur Jungfernfahrt nach New York aufbrach. Vater Charles freute sich auf seine Arbeit bei Spencer Wire Works in Worcester.

Die Asplunds zählten zu den Passagieren des unteren Decks, wo es weder Kübelpalmen noch einen Kandelaber gab. Während oben - dank Hollywood fühlt man sich ja bestens informiert - die Bordkapelle für eine selbstgefällige Highsociety Puccini spielte, teilten sich auf dem Deck der Asplunds 700 Drittklässler zwei Badewannen. Und während sich die Schnösel oben in Pool, Gymnastikraum und Squashcenter tummelten, wurde unten (wo immerhin ein Klavier stand) um 22 Uhr das Licht ausgedreht.

Sieben britische Pfund kostete die Reise auf dem unteren Deck - der Wochenlohn eines Arbeiters. Auf den Balken über den Auswanderern im Schiffsbauch machten es sich Prominente wie US-Millionär John Jacob Astor mit seiner neuesten Braut in 250-Pfund-Suiten bequem. Der Rest ist bekannt. Aus dem Krähennest schallt es: "Iceberg right ahead!", durch die Schiffswand schießt Wasser, noch fühlt man sich sicher. Die Bordkapelle spielt Getragenes, Frauen und Kinder zuerst. Kapitän Smith erklärt: "Now it's every man for himself." Das heißt: Rette sich, wer kann. Dampfkessel plumpsen durch den Rumpf, Chaos bricht aus, das Deck hebt sich, das Ende naht. Von der ersten Klasse werden zwei Drittel der Passagiere gerettet. Von der zweiten Klasse die Hälfte. Von der dritten nur ein Viertel.

Lillian Asplund kommt mit Mutter und Bruder in ein New Yorker Krankenhaus. Weil die Titanic außer Vater und Brüdern auch das gesamte Vermögen der Familie verschluckt hat, starten hilfsbereite Bürger in Worcester eine Spendenaktion. Lillians Tante nimmt Mutter und Kinder auf.

Was Lillian und ihr Bruder Felix später von den im Fachhandel angepriesenen Titanic-Bausätzen, von den abwechslungsreichen Filmen und Büchern zur Katastrophe halten, ist kaum zu sagen. Die Asplunds leben zurückgezogen. Mutter Selma stirbt 1964, Bruder Felix 1983. Auf das erste Deck hat es Lillian übrigens auch später nicht geschafft. Zunächst arbeitete sie als Verkäuferin, dann als Bürokraft bei einer Versicherung. Weder sie noch ihr Bruder Felix heirateten oder hatten Kinder.

Fast nie über das Erlebte gesprochen

Das Thema Titanic indes lässt die Welt nicht los. Schiffskatastrophen mit Hunderten Toten kamen damals wie heute immer wieder vor. Dass aus dem Titanic-Untergang trotzdem zeitweise so etwas wie der Untergang des Abendlandes gemacht wurde, hatte verschiedene Gründe: In den Hochjahren der industriellen Revolution war die Titanic ein Symbol für Optimismus und Aufbruch - so ein Projekt durfte nicht scheitern.

Als das Schiff dann doch im Meer versank, riss es einen satten Teil der von ihm beförderten Polit- und Gesellschaftsprominenz aus England und den USA mit in die Tiefe. Auch galt die hoffnungsvolle Telegrafie-Technik als gescheitert. Zu viele der an Bord eingetroffenen Eisberg-Warnungen waren ignoriert worden. Und zuletzt eignete sich der Untergang wunderbar als Fortsetzungsroman für die Titelseiten der Boulevardpresse.

Dabei spielt sich das eigentliche Drama doch meist leise im privaten Bereich ab: Lillian befolgte den Wunsch ihrer Mutter und sprach fast nie über das Erlebte. In Shrewsbury, wo sie zuletzt lebte, soll kaum jemand ihre Geschichte gekannt haben. Immerhin weiß man, dass Lillian Rosen und Peperoni-Pizza bis ins hohe Alter schätzte. Auch das sei hiermit überliefert.

© SZ vom 9.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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