Tel Aviv:Der Mond, die Herzen und das Mittelmeer

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"Was macht ihr denn da? - Liebe!": Wenn es dunkel wird in Tel Aviv, gehört die Straße den Künstlern, Aktivisten und Sportlern.

Thorsten Schmitz

Die Sonne lässt sich in Tel Aviv nicht viel Zeit mit dem Untergang. Flammend orangefarben steht sie über den Bäumen des Hajarkon-Parks, ein paar Minuten noch, dann plumpst sie ins Mittelmeer. Vered Wasserfeld mag den Moment, wenn sie verschwunden und der Himmel ein undefinierbares Blau ist: "Nicht mehr Tag und noch nicht Nacht", sagt die Tropenmedizinerin vom Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv.

In Tel Aviv ist es nachts alles andere als einsam und trostlos. (Foto: Foto: AP)

Sie trägt ein weites langärmeliges T-Shirt und ausgewaschene Jeans. Schweiß rinnt auf ihrer Stirn. Seit einer Stunde zielt sie mit einem Basketball auf einen Korb und trifft fast immer. Korbleger sind ihre Spezialität.

Wasserfeld teilt sich den betonierten Platz und vier Körbe mit 30 Feierabend-Jungs. Sie ist die einzige Frau, fast jeden Abend spielt sie hier. Mit der Präzision, mit der sie bei israelischen Indien-Urlaubern Wurmbefall diagnostiziert, trifft sie Körbe: "Ich bin süchtig nach Basketball", sagt sie zwischen zwei Würfen. An diesem Abend hört sie früher auf. Ihre Kinder haben die Professorin in das Fischrestaurant Manta Ray am Strand eingeladen, wo auch schon Madonna gegessen hat. Da wird Frau Wasserfeld heute Abend ihren 63. Geburtstag feiern.

Mahnwache im Mondschein

22 Uhr. Am Brunnen auf dem Rabin-Platz im Stadtzentrum von Tel Aviv sitzen zwanzig Jugendliche, hängen am Handy, essen Wassermelone, verteilen kopierte Zettel an Passanten. Sie alle tragen das gleiche T-Shirt. Es zeigt das Gesicht von Gilad Schalit, dem israelischen Soldaten, der vor zwei Jahren von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt wurde. Sie fordern seine Freilassung.

Ein paar Meter von der Mahnwache entfernt hat Jossi Segal ein Teleskop aufgebaut, mit dem er den Mond beobachtet. Der Mond ist fast voll. Segal lässt jeden, der ihn bittet, durchschauen. Er will alle an seiner Lust am Mond teilhaben lassen: Man kann Krater erahnen, dunkle und helle Stellen erkennen, und Jossi Segal weiß auf alle Fragen eine Antwort.

Seit seiner Kindheit habe ihn der Mond fasziniert, sagt der 36 Jahre alte Computerprogrammierer. Er sieht ihn immer, weil er nachts, wenn die Stadt ruhiger werde, immer lange aufbleibe. Dann könne er sich besser konzentrieren.

Eine Brise vom Meer fegt über den Platz und bläst die Hitze vom Tag weg. Segal wohnt seit fast zehn Jahren in der Nähe des Platzes, auf dem ein jüdischer Terrorist vor 13 Jahren Premierminister Jitzchak Rabin erschossen hat. Er würde alles geben, sagt Segal, um einmal die Erde vom Mond aus zu sehen. Er lässt zwei Jugendliche von der Mahnwache durchs Teleskop schauen. Einer der Jungs sagt: "Vielleicht schaut Gilad ja auch jetzt auf den Mond wie wir."

Herzchen für das Stadtbild

1 Uhr. Der Platz Hamoschavot im abenteuerlichen Süden von Tel Aviv, wo die Mieten noch erschwinglich und die Straßen auch wochentags frühmorgens belebt sind, hat vor kurzem ein Facelifting verpasst bekommen. Den Künstlern Jochai Matos und Michal Zederbaum, beide 30 Jahre alt, ist der Platz noch nicht schön genug. Sie bezeichnen sich als Stadtgärtner. In nächtlichen Aktionen garnieren sie die Straßenschilder von Tel Aviv mit händchenhaltenden Pärchen oder bunten Blumen und versehen Trottoirs mit Herzen aus roten Badezimmerkacheln.

In dieser Nacht sitzen Matos und Zederbaum auf dem Bürgersteig am Hamoschavot-Platz, spachteln Klebemasse auf den Boden und kleben 151 viereckige Keramikkacheln, die am Ende ein Herz ergeben. Die Müllabfuhr fährt vorbei, ein betrunkenes Pärchen fängt an, sich vor dem Boden-Herz zu küssen, eine Gruppe schwuler Jugendlicher fragt, ob die Künstler so ein Herz nicht in ihren Wohnungen installieren können. Fünf Herzen haben die Straßenkünstler im Zentrum von Tel Aviv bereits angefertigt, fünfmal kamen erboste Angestellte der Stadtverwaltung, und entfernten sie wieder.

Matos sagt, sie wollten mit den Herzen Passanten zum Lächeln oder zu einem Kuss ermuntern "oder einfach nur den Weg zur Arbeit verschönern". Eine Studentin, die ihre zwei Hunde Gassi führt, bleibt stehen und fragt: "Was macht ihr denn da?" Und Matos sagt: "Liebe".

3 Uhr. Auf den Felsen am Banana-Beach lassen fünf Jungs und vier Mädchen einen Joint kreisen. Tal hat kleine Boxen mitgebracht und einen MP3-Player angeschlossen. Es läuft eine Techno-Version von Rita, der israelischen Sängerin, die dramatische Liebeslieder singt. Manche summen den Text mit, zwei Mädchen küssen sich, dass die Jungs anfangen zu pfeifen. Einer rennt ins Meer: Er muss mal. Lauwarmer Rotwein wird in Plastikbechern herumgereicht.

Abitur und Armee

Die Jungs und Mädels feiern das Ende der Schulzeit, alle waren auf demselben Gymnasium und kennen sich seit Jahren. Manche, wie Ofer, gehen in einem Monat in die Armee. Er wird nach der Grundausbildung in den militärischen Geheimdienst wechseln. Er wollte nicht in eine Kampfeinheit und dann im Westjordanland "Palästinenser unterdrücken", wie er sagt.

Seine Freundin Galit zieht kräftig am Joint, sie hustet, und Ofer klopft ihr den Rücken. Galit wird Büroarbeiten auf einer Basis für Luftwaffenpiloten erledigen. Sie verzieht das Gesicht, als sie davon erzählt: "Die Jungs haben die spannenderen Jobs bei der Armee", sagt sie.

Nach der Armee, sagt Ofer, wollen sie nach Nepal und Indien fahren. Männer müssen drei, Frauen nur zwei Jahre Dienst schieben. Galit wird in dem einen Jahr, in dem sie auf Ofer wartet, in einem Café oder einem Restaurant jobben.

Es ist weit nach Mitternacht, der Mond wirft fahles Licht auf das Mittelmeer, über dem Strand fliegen zwei Armeehubschrauber. "Die kommen bestimmt gerade von einem Einsatz im Gaza-Streifen", sagt Ofer. Keiner sagt etwas. Dann wird Joav lautstark begrüßt, der den Freunden auf den Felsen entgegenbalanciert. In den Händen trägt er zwei Tüten voller eiskalter Bierdosen.

5.00 Uhr Es wird gerade hell, als das Freibad der Universität Tel Aviv seine Pforten öffnet. Jeden Tag ab 5 Uhr kann man im 50-Meter-Becken seine Bahnen ziehen. Die Männer und Frauen, die um diese Zeit hierher kommen, schwimmen jeden Morgen, wenn die Vögel anfangen zu zwitschern, im Winter wie im Sommer. Man kennt sich, Küsschen fliegen in die Luft, Sätze werden gewechselt, Handygespräche geführt.

Man fragt sich, mit wem die junge Frau im roten Badeanzug um Viertel nach fünf telefoniert. Sie heißt Tali, ist 26 und hat gerade ihre Schicht in einer Bar beendet. Sie sagt, sie sei noch zu aufgekratzt gewesen, um schlafen zu gehen. Im Pool komme sie wieder zu sich zurück. Am Telefon war ihr Mann. "Er hat gefragt, wie viel Milchpulver und wie viel Wasser in die Babyflasche muss." Tali ist vor vier Monaten Mutter geworden.

© SZ vom 11.8.2008/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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