Suizid:"Man sollte alles versuchen, um zu helfen"

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Erschreckende Zahlen: In Deutschland gibt es doppelt so viele Tote durch Suizid wie durch Verkehrsunfälle.

Titus Arnu

Die Zahl der Selbstmorde in Deutschland ist im vergangenen Jahr weiter zurückgegangen. So erfreulich die Tendenz ist, die Statistik bleibt erschreckend: 2007 nahmen sich bundesweit 9400 Menschen das Leben - die Zahl der Suizidfälle ist doppelt so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten im selben Zeitraum. Über die Ursachen dieser Entwicklung sprach die SZ mit Georg Fiedler, Diplompsychologe beim Therapiezentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Als Sekretär des Nationalen Suizid-Präventionsprogramms leistet Fiedler außerdem Aufklärungsarbeit.

2007 nahmen sich bundesweit 9400 Menschen das Leben. (Foto: Foto:)

SZ: Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der Suizide in Deutschland seit 1980 halbiert. Woran liegt das?

Fiedler: Zunächst muss man dazu sagen, dass dies keine kontinuierliche Entwicklung ist. Bis Mitte der 90er Jahre gingen die Zahlen zurück, dann blieben sie etwa zehn Jahre lang gleich auf einem Level von 10000 bis 12000 Fällen. Seit 2004 sinkt die Suizidrate wieder.

SZ: Worauf ist das zurückzuführen?

Fiedler: Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen gibt es in unserer heutigen Gesellschaft einen anderen Umgang mit Risikogruppen, also Menschen mit psychischen Krankheiten, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Zum anderen gibt es mittlerweile bessere Behandlungsmöglichkeiten für gefährdete Menschen. Im Laufe der 80er Jahre sind neue Antidepressiva und Antipsychotika auf den Markt gekommen, die von den Patienten besser angenommen wurden. Außerdem sind psychiatrische Einrichtungen heute präsenter in den Städten und nicht mehr so stigmatisiert. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der Notfallmedizin besser geworden - das heißt, Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, werden häufiger gerettet.

SZ: Ist auch die Zahl der Suizidversuche zurückgegangen in Deutschland?

Fiedler: Darüber gibt es nur Schätzungen. Eine Faustregel sagt, dass auf jeden Suizid zehn Versuche kommen. Das heißt, dass sich 100000 Deutsche pro Jahr das Leben nehmen wollen - das ist eine ganze Großstadt. Nach Schätzung der WHO sind von jedem Suizid sechs nahestehende Menschen betroffen - da sind sie schnell bei 600000 Menschen pro Jahr, die mit dem Thema konfrontiert werden. Es geht wirklich jeden etwas an.

SZ: An diesem Mittwoch ist der "Welt-Suizid-Präventionstag", der auf das Thema aufmerksam machen will. Warum wird sonst so wenig über Suizide geredet?

Auf der nächsten Seite: Was können Angehörige tun?

Fiedler: Es ist paradox: Die Anzahl der Suizide ist tatsächlich größer als die der Toten durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch, Aids, Mord und Totschlag zusammen, und doch ist die gefühlte Gefährdung bei allen anderen Themen größer als bei der Selbsttötung.

SZ: Woran könnte das liegen?

Fiedler: Es gibt nach wie vor eine Tabuisierung des Suizids, die sicher kulturgeschichtliche Wurzeln hat. Das hat mit der Ächtung durch die christliche Kirche zu tun - in Deutschland war es ja früher üblich, dass Menschen, die sich das Leben genommen hatten, nicht auf dem Friedhof bestattet wurden. Dazu kommt, dass persönliche Erfahrungen mit Suizidfällen in der Familie häufig mit Ohnmacht und Schuldgefühlen belastet sind. Deshalb wird in vielen Familien der Suizid lieber verschwiegen.

SZ: Wie sollte man sich als Angehöriger verhalten, wenn man von Suizidabsichten eines Familienmitglieds erfährt?

Fiedler: Es gibt viele Möglichkeiten, zu helfen, durch Gespräche, durch die Einbindung von Fachkräften. Wichtig ist es deshalb auch, schon rechtzeitig Warnsignale zu beachten und darauf einzugehen. Suizidgedanken kommen ja meistens nicht aus heiterem Himmel.

SZ: Auf welche Warnsignale sollten Angehörige von Betroffenen achten?

Fiedler: Wenn sich jemand sozial zurückzieht, den Alkohol- und Drogenkonsum steigert, dann sollte man aufmerksam werden und den Betroffenen auch darauf ansprechen - die meisten reagieren dann erleichtert und wollen reden.

SZ: Welche Therapie-Möglichkeiten gibt es für Gefährdete?

Fiedler: Das hängt auch von den Betroffenen ab. Generell gilt, dass das professionelle Gespräch über die suizidale Befindlichkeit und die zugrunde liegenden Konflikte von Bedeutung sein sollte, ob ambulant oder stationär. In vielen Regionen gibt es Einrichtungen für suizidgefährdete Menschen. Darüber hinaus stehen auch in Notfällen die Psychiatrischen Kliniken und Abteilungen rund um die Uhr zur Verfügung. Es wird auch hilfreich sein, den Hausarzt anzusprechen oder eine andere Person des Vertrauens, wie einen Pastor oder einen Pfleger.

SZ: Gibt es Fälle, in denen Angehörige nicht mehr helfen können?

Fiedler: Häufig überfordert es nahestehende Personen, demjenigen zu helfen. Sich das Leben zu nehmen, ist letztendlich immer eine autonome Entscheidung. Trotzdem würde ich sagen, dass man immer alles versuchen sollte, zu helfen, so schwierig es auch ist. Denn für die meisten Menschen mit Suizidgedanken geht es nicht darum, sich das Leben zu nehmen, sondern darum, dass sie nicht wissen, wie sie weiterleben können. Das ist ein Riesenunterschied. Und wenn es den nicht gäbe, würde unsere Präventionsarbeit in vielen Fällen nichts nutzen.

Hilfe und Tipps zum Thema: www.suizidpraevention-deutschland.de; www.welttag-suizidpraevention.de

© SZ vom 08.09.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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