Straßenkinder in Deutschland:...und ein Schlafkäfig für die Ratte

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Sie haben Handys und schicke Klamotten, aber wissen nicht, wo sie übernachten sollen: In Deutschland leben 20.000 Kinder auf der Straße.

Martin Zips

Das Untergeschoss des Nürnberger Hauptbahnhofs. Eine junge Türkin trifft ihren Ex-Freund und dessen neue Freundin. ,,Du Hure'', schreit die Türkin zum Mädchen an der Hand des ehemaligen Lovers.

Obdachlose Jugendliche in Notunterkunft: Mehr als 20.000 junge Menschen in Deutschland haben kein Dach über dem Kopf. Sie schlafen überall - nur nicht bei ihren Eltern. (Foto: Foto: dpa)

,,Du Kifferin'', ruft die Neue zurück und geht zusammen mit dem Typen auf die Ex los. Er tritt seiner Ehemaligen so kräftig in den Bauch, dass er dabei einen Schuh verliert. Auch seine neue Freundin prügelt auf die Türkin ein - bis ihre Lippe blutet.

Zwei Beamte in Zivil schreiten ein, zerren die Jugendlichen auseinander, nehmen ihre Personalien auf, sammeln Klappmesser und Handys ein. ,,Solche Szenen gibt es hier öfter'', sagt einer der Beamten. ,,Das sind Straßenkinder.''

In Deutschland leben Straßenkinder nicht in Pappkartons oder verlassenen Häusern. In Deutschland haben Straßenkinder manchmal recht schicke Klamotten an, sie besitzen Handys und Goldkettchen und vagabundieren tagsüber durch die Innenstädte.

Die Punker checken ein

Sie schlafen in Notunterkünften oder bei Freunden - bei ihren Eltern schlafen sie nicht. Uwe Britten vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes schätzt, dass es 20.000 Straßenkinder in Deutschland gibt. Schwer zu sagen, ob ihre Zahl eher zu- oder eher abnimmt. Eindeutige Statistiken existieren nicht. Straßenkinder kommen und gehen.

Die meisten Städte mit mehr als hunderttausend Einwohnern haben eigene Einrichtungen, in denen Straßenkinder betreut werden. Das Sleep-In in Nürnberg ist so eine Einrichtung: Eine Art Jugendherberge für Kinder und Jugendliche, die - zumindest zeitweise - nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Im Sleep-In gibt es genügend Matratzen, es gibt Küche, Toiletten und Duschen, ein Spielezimmer und einen Fernsehraum.

Und wenn einer seinen Hund mitbringt, so darf der auch im Sleep-In pennen. Manchmal checken abends zwischen 19 und 23 Uhr Punker mit Ratte ein. Für die Ratten gibt es einen eigenen Schlafkäfig.

Die Frau, die in dieser Nacht Rezeptionsdienst im Sleep-In hat, heißt Svenja. Wer sich in ihrem Büro auf das Sofa setzen möchte, zu dem sagt die Erzieherin: ,,Dort besser nicht, hier sitzen immer viele Jugendliche mit Hautkrankheiten.'' Svenja passt auf, dass nur Leute im Sleep-In aufgenommen werden, die jünger als 23 sind. ,,Für die Älteren gibt es ja andere Notschlafstellen.'' Während ihres Nachtdienstes hört Svenja Radio und raucht Zigaretten.

"Nein, da habe ich Hausverbot"

Angst habe sie eigentlich nie, sagt sie. Auf ihrem Schreibtisch steht eine Sprühflasche mit Desinfektionsmittel und ein kleiner Überwachungs-Bildschirm. Auf ihm kann man ein Mädchen sehen, das gerade zwei Stockwerke tiefer den Klingelknopf drückt: ,,Wie geht's, Brenda?'', fragt Svenja, als das kleine, kräftige Mädchen mit einer Baseballmütze auf dem Kopf ihr Büro betritt.

,,Super'', antwortet Brenda mit tiefer Stimme. ,,Ich habe jetzt endlich eine eigene Wohnung. Aber ich suche einen Schlafplatz für einen Bekannten, habt ihr noch etwas frei?'' Svenja fragt nicht nach dem Namen des Bekannten.

Die ersten drei Nächte im Sleep-In darf jeder anonym bleiben. Weil der junge Mann mit 23 jedoch schon zu alt für eine Übernachtung ist, liest Svenja ihm eine Liste mit anderen ,,Notschlafstellen'' vor. Vorschlag für Vorschlag lehnt er ab. ,,Dort nicht, da schlafen zehn Mann in einem Schlafsaal'', sagt er. Oder: ,,Nein. Da habe ich Hausverbot.'' Wie er auf die Straße gekommen ist, darüber möchte er nicht reden. Doch Brenda beginnt zu erzählen.

,,Ich war eineinhalb Jahre alt, völlig unterernährt, unterkühlt und hatte überall blaue Flecken'', sagt sie. ,,Da hat mich das Jugendamt meinen Eltern weggenommen.'' Brenda kam in eine Pflegefamilie. ,,Mein Zimmer war der Keller.'' Sie hat ein verkürztes Bein und humpelt ein bisschen. ,,Die Kinder und Eltern meiner Pflegefamilie haben sich ständig über mich lustig gemacht.'' Außerdem hat Brenda dunkle Haut. ,,Deshalb nannten sie mich Mohrenkopf. Einmal haben sie mich kopfüber in die Kloschüssel getaucht und gesagt: Putz die Scheiße, Negerchen.''

Mit 15 riss Brenda aus. Zunächst wurde die Gegend rund um den Würzburger Hauptbahnhof ihr neues Zuhause. Ein kleiner Gangster sei sie gewesen, erzählt die heute 23-Jährige. Einer, der morgens klaute und abends kiffte. Acht Jahre lang habe sie auf der Straße gelebt und auf Parkbänken oder bei Freunden übernachtet. Dann besorgte sich Brenda die Adresse ihrer leiblichen Mutter und besuchte sie. Doch die beiden verstanden sich nicht.

"Er kiffte und war launisch, es funktionierte einfach nicht"

Ihre Mutter sei drogenabhängig, sagt Brenda. Durch eine Indiskretion eines Jugendamtmitarbeiters erfuhr Brenda kurz darauf auch die Adresse ihres Vaters, einem ehemals in Franken stationierten US-Soldaten. Er wohnte nun in New Orleans. ,,Ich habe Geld gespart und mir ein Flugticket in die USA gekauft.'' Brenda hoffte, ihr Vater werde sie bei sich aufnehmen. Sie freute sich auf einen Neubeginn in den Staaten. Doch nach nur zwei Wochen zog sie wieder bei ihm aus.

,,Er kiffte und war launisch, es funktionierte einfach nicht.'' Sie bat die deutsche Botschaft um finanzielle Hilfe. Für ein Rückflugticket nämlich hatte sie kein Geld. Zurück in Deutschland wohnte sie erst in einem Obdachlosenheim in Würzburg, dann in Nürnberg auf der Straße. Und immer wieder schlief sie im Sleep-In.

Das Sleep-In ist nur eines von vielen Hilfsangeboten für Jugendliche in Nürnberg. Der Verein Schlupfwinkel, der es zusammen mit dem Jugendamt betreibt, beschäftigt 43 hauptamtliche Mitarbeiter, die sich um Kinder und Jugendliche in problematischen Verhältnissen kümmern.

Klingt kühl, emotionslos und bürokratisch - ist aber nicht so gemeint

Da gibt es die ,,Familiäre Bereitschaftsbetreuung für Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von drei Jahren'' oder die ,,Kindernotwohnung für die Aufnahme von drei- bis zwölfjährigen in Krisensituationen''. Dort finden sich an diesem Abend drei kleine Kinder in der Küche, sie essen mit zwei Erziehern Abendbrot.

Nur ein Zimmer weiter werden ihre Eltern von Mitarbeitern des Jugendamts befragt. Die Eltern müssen von ihren Kindern auch heute wieder getrennt schlafen. Die Betreuer fürchten, die überforderten Eltern könnten ihrem Nachwuchs daheim etwas antun.

Auch die zwölf- bis 18-Jährigen finden bei Bedarf - zumindest vorübergehend und rund um die Uhr von Erziehern betreut - in einer der Notwohnungen Unterschlupf. Peter Singer, Geschäftsführer des Schlupfwinkel-Vereins nennt diese Einrichtung ,,Inobhutnahmestelle'', er spricht vom ,,ambulant betreuten Einzelwohnen'' und ,,Selbstmeldern''. Sozialpädagogensprache.

Ein Versuch, das menschliche Leid, das allgegenwärtige Chaos zu ordnen. Klingt zuweilen kühl, emotionslos und bürokratisch. Ist aber nicht so gemeint.

,,Der Jüngste, der bei uns um Hilfe bat, war erst acht Jahre alt'', sagt Singer. Dass Kinder auf der Straße landen, sei einerseits der immer stärker auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich zuzuschreiben, doch neben der finanziellen gebe es auch eine emotionale Armut.

Immer mehr Jugendliche definierten sich nur noch über Markenklamotten und Designerturnschuhe. ,,Echte Freundschaft und Liebe kennen die kaum.'' Jedes dritte Kind, das bei ihnen lande, stamme aus sogenannten guten Verhältnissen, sagt Singer. ,,Auch Gymnasiasten sind darunter. Sie haben jahrelang in ihre Ausbildung investiert und verzweifeln, weil sie nicht wissen, ob sie einen Job bekommen.''

Verboten sind nur Drogen

Im Sleep-In unweit des Nürnberger Hauptbahnhofs reicht Erzieherin Svenja gerade Brenda und deren Bekannten eine Flasche Wasser. ,,Wir zwingen niemandem ein Gespräch auf'', sagt Svenja. Aber wenn jemand sprechen will, sei man natürlich für ihn da. Im Sleep-In können junge Obdachlose ihre Wäsche waschen, sie bekommen Obst und Getränke. Nur Drogen sind verboten. Wer was dabei hat, muss das während seines Aufenthalts in einem Schließfach absperren.

,,Jedesmal, wenn ich wieder höre, dass einer unserer regelmäßigen Gäste an einer Überdosis gestorben ist, bin ich ziemlich am Ende'', sagt Svenja, die diesen Job seit zwei Jahren macht. ,,Früher wusste ich gar nicht, dass es in Deutschland überhaupt so etwas wie Straßenkinder gibt.''

Nun wisse sie, dass die Straßenkinder hierzulande meist ,,am Bahnhof stehen, gute Kleider tragen und alle Chancen, die ihnen das Jugendamt schon geboten hat, in den Wind geschlagen haben''. Manchmal schlafen sie hier, bei Svenja im Sleep-In. Maximal sechs Nächte pro Monat sind erlaubt. Damit jeder einmal drankommt.

Zurück nach New Orleans

Vor einiger Zeit hat das ehemalige Straßenkind Brenda ihre Mittlere Reife nachgeholt. ,,Mit ziemlich vielen Sehr gut'', sagt Brenda. Zuletzt machte sie eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, arbeitete mit Behinderten. Diese Ausbildung hat sie jetzt abgebrochen. Wieder steht sie vor einem Neuanfang.

Diesmal möchte sie zu einer Tante ziehen, wieder nach New Orleans. Sie träumt von einer Karriere als Rapperin in den USA. Sie sagt, ihr Cousin sei ein erfolgreicher Plattenproduzent. Diesmal habe sie ein echt gutes Gefühl, dass ihr Leben in die richtige Spur kommt, meint Brenda.

© SZ vom 08.03.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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