In Zeiten elektronischer Kommunikation dachte man eigentlich, dass Geheimtinte ein Auslaufmodell wäre. Ist es nicht überflüssige Arbeit, einen Brief mühsam mit Zitronensaft zu pinseln, den der Empfänger dann über eine Kerze halten muss - wo man doch ganz einfach eine verschlüsselte E-Mail schicken kann? Der Mythos Geheimtinte verblasst zusehends, doch jetzt lässt eine Nachricht aus China aufhorchen: Forscher aus Shanghai haben eine neue Superflüssigkeit erfunden. Sie besteht aus Metall-organischen Gerüsten auf Blei-Basis. Um sie sichtbar zu machen, muss man die Schrift mit Halogenid-Salzen in Kontakt bringen. Dabei entstehen Perowskit-Nanokristalle, die unter UV-Licht leuchten. Der Clou: Mithilfe von Methanol wird die Schrift wieder unsichtbar, ein unschätzbarer Vorteil gegenüber herkömmlichen Geheimtinten.
Die Vielzahl an chemischen Begriffen verrät schon, dass die Geheimniskrämerei längst nicht mehr so romantisch ist wie zu Zeiten Ovids. Der Dichter empfahl amourös verstrickten Römerinnen, ihre Liebesbriefe mit Milch zu schreiben. Vorbei auch die Zeiten, als verwegene Agenten ihre Botschaften mit Urin oder Sperma auftrugen. Vom Gründer des britischen Auslandsgeheimdiensts MI-6 soll der Satz stammen, jeder Mann habe seinen eigenen Füllfederhalter dabei. Die BND-Spione kommunizierten in den 1950er und 60er Jahren mittels beschrifteter Stofftaschentücher oder präparierter Urlaubspostkarten. Von einem besonders hübschen Spionagewerkzeug berichtet Florian Schimikowski vom Deutschen Spionagemuseum in Berlin: Der Ururenkel des Chemikers Justus von Liebig lieferte als DDR-Wissenschaftler mithilfe eines beschrifteten Seidenschals Informationen an die USA.
Die neue China-Geheimtinte lässt sich übrigens per Tintenstrahldrucker aufbringen. Es empfiehlt sich, als Tarnung eine Rechnung zu verschicken. Normale Briefe schreibt kein Mensch mehr.