Sonnenfinsternis in der Türkei:"Republik des Aberglaubens"

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Für Touristen in der Türkei ist die Sonnenfinsternis eine Riesenparty, doch viele Türken haben davor Angst.

Kai Strittmatter

An diesem Mittwoch, kurz nach Mittag, wenn über der Türkei die Sonne am kraftvollsten scheint, ist es wieder einmal soweit: Vögel werden verstummen, Menschen für lange Minuten ihr Tagewerk einstellen und zum Himmel blicken. Die Sonne wird verschwinden.

Die blaue Moschee in Istanbul während der Sonnenfinsternis 1999. Diesmal wird die Sonne ganz verdunkelt sein. (Foto: Foto: AP)

Nicht wenige beschreiben das als eine lebensverändernde Erfahrung: Wenn da mit einem Mal ein schwarzes Loch am Himmel ist, umgeben von einem Strahlenkranz, wo eben noch die Sonne stand; wenn plötzlich Sterne funkeln, wo eben noch helllichter Tag war.

Die einen sehnen das Ereignis herbei, voller Herzklopfen. Die anderen fürchten es, mit nicht weniger Herzklopfen. Beide treffen einander heute in der Türkei.

Die totale Sonnenfinsternis. Es ist der Schatten des Mondes, der auf die Erde fällt, wenn unser Planet, der Mond und die Sonne in exakt einer Linie stehen.

Türkische Hoteliers reiben sich die Hände

Wer die Finsternis beobachten will, begibt sich am besten ins Zentrum des 170 Kilometer breiten Schattens, der zuerst im Osten Brasiliens den Tag zur Nacht machen wird, bevor er über den Atlantik eilt, Afrika überquert und sich dann vom Mittelmeer her der Türkei nähert.

Die türkischen Hoteliers jubeln. Es ist als hätten sie diesmal eine geheime Verabredung mit dem Sonnensystem: Die libysche Wüste, wo die Finsternis am eindrücklichsten zu sehen sein soll, lockt die Schaulustigen so wenig wie die Länder Togo, Benin oder Tschad. Auch Georgien, Kasachstan und die Mongolei - wo der Mond die Sonne am Schluss wieder freigibt - erwiesen sich als nicht so attraktiv wie die Türkei.

Hier nämlich zieht die Finsternis ausgerechnet über die großen Tourismusorte: An den Stränden von Antalya kann man ebenso bequem Zeuge sein wie in Konya, der Heimat der tanzenden Derwische, oder in den Tuffbergen von Kappadokien.

Sonnenhungrige aus aller Welt

Also kommen sie in Scharen für die dreieinhalb Minuten Dunkelheit: die Touristen, die Fotografen und vor allem natürlich die verrückten Jäger der Schatten aus Kalifornien, aus Deutschland und aus Japan - Süchtige, die ihr Leben und ihre Weltreisen um die nächste Sonnenfinsternis herum planen.

Hotels sind voll, Flüge ausgebucht, die Angebote für jeden Geschmack: Das Massenblatt Hürriyet bittet eine Astrologin zur Leserreise nach Antalya, vor und nach der Finsternis werden "Seancen zur Reinigung der Seele" vorgenommen.

"Bruderschaft" zwischen Finsternis und Erdbeben

Einigen Türken ist die Seele tatsächlich aus dem Gleichgewicht geraten. Wie unsere Ahnen zu Beginn der Zivilisation sind sie überzeugt, eine Sonnenfinsternis sei der Bote großer Katastrophen - namentlich eines Erdbebens.

Von einer vermuteten "Bruderschaft" zwischen Finsternis und Erdbeben schreibt das Nachrichtenmagazin "Tempo", Professoren wie Ahmet Ercan von der Technischen Universität Istanbul unterfüttern die These mit angeblicher Wissenschaft, andere raunen vom Magmafluss unter der Erdkruste, der nun unter Druck geraten könnte.

Eindrücklichstes Argument der Auguren ist das verheerende Erdbeben von Ismit 1999, bei dem 17000 Menschen ums Leben kamen. Sechs Tage vor dem Beben hatte sich die Sonne verfinstert. Und wenn auch die meisten Befragten in Istanbul die Furcht als Unsinn abtun, so bleiben doch genug Türken, die an einen Zusammenhang glauben.

Flucht vor der Sonnenfinsternis

In der Kleinstadt Niksar, 400 Kilometer östlich von Ankara, genügten die düsteren Prophezeiungen eines Universitäts-Hilfsdozenten für Metallurgie namens Mustafa Yildirim, um die Menschen aus ihren Wohnungen fliehen zu lassen: Das türkische Fernsehen zeigte Bilder einer Zeltstadt, in der die Ängstlichen unter den Bürgern von Niksar nun auf Sonnenfinsternis und Erdbeben warten.

Der Vize-Bürgermeister Abdullah Yildiz ist ratlos: "Unverantwortlich" sei es, die irrationalen Ängste der Menschen zu schüren, schimpft er der SZ gegenüber. In ihrer Not lud die Stadtverwaltung für den Tag vor der Sonnenfinsternis gleich sieben renommierte Erdbebenforscher zu einer Konferenz nach Niksar, um die Bürger zu beruhigen. "Bitte kommen Sie doch auch", bittet Yildiz am Telefon: "Wir brauchen hier jede Unterstützung."

In Istanbul werden Wissenschaftler nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es keinerlei statistischen Zusammenhang zwischen den beiden Naturereignissen gebe.

Jedes Jahr ereigneten sich weltweit mehr als 150 Erdbeben der Stärke sechs oder höher auf der Richterskala, referiert etwa Professor Haluk Eyidogan vom Internationalen Erdbebenrat: "Bei so vielen Erdbeben gibt es immer welche, die vor oder nach einer Sonnenfinsternis passieren."

Die Zelte in Niksar jedoch stehen noch immer. Die Türkei sei eben, seufzt die Zeitung Radikal, eine "Republik des Aberglaubens". Die Zeitung Vatan weist ihre Leser derweil auf die "einzige wirkliche Gefahr" hin: "Passen Sie auf Ihre Augen auf, wenn Sie in die Sonne schauen!"

© SZ vom 29.03.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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