Sommerloch 1975:Die schwarze Frau

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Seit Monaten wabern im Sommer 1975 Gerüchte durch Ostbayern: Gespenster würden erscheinen. Pünktlich zu Beginn der nachrichtenarmen Zeit wird die Story breitgetreten.

Oliver Das Gupta

Der Sommer 1975 beginnt langweilig. Wieder mal reckt Nessie den Kopf aus ihrem schottischen Loch und verdutzt drei Urlauber, im spanischen Pamplona nehmen die Stiere Dutzende Möchtegerntreiber auf die Hörner, und das erwartete Verkehrschaos ist großes Thema, diesmal mit einer östlichen Note: Die Jugoslawen fürchten "Massaker" auf ihren Straßen, ausgelöst durch übermüdetete Teutonen, die "durch den Balkan" rasen, wie die SZ schreibt.

(Foto: Foto: iStock. Montage: Samuel Schrott)

Ist also irgendwie alles wie immer, wenn die nachrichtenarme Zeit anbricht. Gäbe es da nicht zwei Gestalten, zwei vermeintlich Untote, die mächtig für Aufsehen sorgen. Im ersten Fall handelt es sich um John Stonehouse, im zweiten um eine ältere Dame aus Niederbayern. Aber alles der Reihe nach.

Man muss sich Stonehouse als armen Tropf vorstellen. Er träumt davon, Premierminister zu werden, aber es reicht nur zum Staatssekretär. Der schneidige Labour-Politiker versucht sich als Unternehmer, was wieder danebengeht. Er frisiert Bücher, man kommt ihm auf die Schliche.

Stonehouse inszeniert seinen Selbstmord - lost in the deep blue sea -, schlüpft in die Identität eines Verstorbenen und vergnügt sich mit seiner Sekretärin Sheila. Durch einen dummen Zufall fliegt er in Australien auf. Nach monatelangem Hin und Her taucht der angeblich Verblichene wieder in England auf - pünktlich zum Sommerloch '75.

Stonehouse' Story ist der Süddeutschen Zeitung seinerzeit eine Seite Drei und mehrere Meldungen wert, ebenso die Erscheinung, die keinen Namen trägt. Braucht sie auch nicht, schließlich ist sie ein Gespenst.

Zum ersten Mal geistert sie im Frühjahr durch den niederbayerischen Blätterwald, die knorrige Alte im schwarzen Gewand. Sie wird an der Straße gesehen und löst sich in Luft auf, nicht ohne vorher von einem "blutigen Herbst" zu salbadern.

Die wilde Weise wird von mehreren niederbayerischen Zeitungen abgedruckt. Als auch die österreichische Pilgerzeitschrift Retter der Welt über den Fall berichtet, spießt Herbert Riehl-Heyse die Geschichte auf. Süffisant weist der SZ-Autor darauf hin, dass die Erscheinung überall dort auftaucht, wo die Presse über sie berichtet hatte. Und dass Wiener Wissenschaftler eigens in den Bayerischen Wald reisen, um das Gespenst "sofort mit Infrarot zu schießen". Ein Amateur-Filmer zaubert obendrein wackelige Bilder hervor von der gebückten Greisin mit Kopftuch.

Die Republik wartet noch auf weitere Episoden der haarsträubenden wie unterhaltsamen Causa, die das Zeug hat, das Sommerloch komplett zu füllen. Doch es kommt anders: Harte, politische Themen drängen sich den Redaktionen auf, schließlich wird in Beirut gekämpft, in Stammheim geurteilt und in Helsinki zwischen Ost und West geplauscht.

So vergehen Juli und August. Als sich die Blätter färben, ziehen die ersten Frauen in der Bundeswehr Offiziersuniformen an, Woody Allens "Love and Death" und Stanley Kubricks "Barry Lyndon" flimmern über deutsche Kinoleinwände. Und John Stonehouse? Er sitzt wieder im britischen Unterhaus.

Anders die Schwarze Frau. Sie entschließt sich, nicht mehr zu erscheinen. Schließlich ist der prophezeite blutige Herbst nicht eingetroffen. Gespenster können so eitel sein.

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