Sommerloch 1966:Der Sommer unseres Missvergnügens

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Der spielentscheidende Augenblick - das 3:2 - im Endspiel England - Deutschland im WM-Endspiel 1966 im Londoner Wembley-Stadion. In der Luft: Torhüter Hans Tilkowski. Das wohl umstrittenste Tor des Jahrhunderts wurde von Geoffrey Hurst erzielt (Foto: AP)

Ein Tor, das keines ist. Teutonische Kinderlosigkeit. Und ein Kommunistenführer, der rekordverdächtig schwimmt. Das bewegte die Deutschen im Sommer vor 50 Jahren.

Johannes Honsell

1966: Ganz tiefes Sommerloch. Voller Debakel, Drama, Depression. Der Sachverhalt: Wembley-Stadion in London, WM-Finale, Verlängerung. Hurst jagt den Ball an die Latte, der springt von dort auf die Linie, der Schiedsrichter zeigt auf den Mittelkreis: "Tor."

England Weltmeister, Deutschland nicht.

Und dann auch noch Heinrich Lübke. Bei einem Empfang in Bonn trieb der Bundespräsident den geschlagenen Nationalkickern Orden durchs Revers und einen Pflock ins Herz: "Der Ball war nicht drin." Das habe er gesehen, "mit eigenen Augen", und zwar im Fernsehen.

Den im Spiel gefoulten Torwart Tilkoswki fragte er: "Warum wälzen sie sich, wenn sie nicht tödlich getroffen sind, so voller Schmerzen am Boden? Wollen sie sich da nur ausruhen?"

50 Jahre WM-Finale 1966
:Und ewig fällt das Wembley-Tor

Drin oder nicht drin? Heute vor 50 Jahren entschied Linienrichter Bachramow im WM-Finale zwischen Deutschland und England auf Tor - sein Urteil könnte einen politischen Hintergrund gehabt haben.

Von Martin Schneider

Die Presse zeterte vom Wembley-Betrug, der Rest machte sich Gedanken über das deutsche Wesen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: "Die Deutschen lieben den Sieg über alles, doch bleibt er ihnen, fasst man zusammen, meist versagt." Und der Spiegel notierte: "Teutonen können einfach nicht so klar geschlagen werden, dass sie sich nicht alsbald im Felde unbesiegt fühlen."

Auf den Punkt aber brachte es der Inder Snober Irani, Deutsch-Student in München. In einem Aufsatz über sein Gastland schrieb er: "In seinem Kampf und seiner Anstrengung um den Wiederaufbau hat Deutschland seinen Humor verloren."

Mao, der Schnellschwimmer

Ganz im Gegensatz zu den Funktionären des Welt-Marathon-Schwimmverbandes. Die luden Chinesenführer Mao Zedong zu Schwimmwettkämpfen nach Kanada ein, weil die Nachrichtenagentur Neues China gemeldet hatte, dass der große Führer am 16. Juli im Jangtse geschwommen sei: 15 Kilometer in etwa einer Stunde.*

Mit so einer Leistung könne Mao die Wettkämpfe mit Leichtigkeit gewinnen, schrieb der Verband. Und außerdem wertvolle Preise mit nach Hause nehmen. Aus Wut über diese Unverschämtheit zettelte Mao noch im gleichen Sommer eine Kulturrevolution an.

John Lennon behauptete derweil, die Beatles seien berühmter als Jesus, was viele Kleriker zähneknirschend bestätigen mussten.

In New York meldeten einige Krankenhäuser einen sprunghaften Anstieg der Geburtenraten. Neun Monate zuvor war in acht Bundesstaaten Amerikas der Strom ausgefallen.

In Deutschland kam trotzdem niemand auf die Idee, landesweit die Kraftwerke abzuschalten, obwohl die Geburtenrate seit einem Jahr sank - zum ersten Mal seit 1946. Deutschland wurde also doch noch Weltmeister - der Kinderlosen.

Den Grund dafür konnte man schon damals nachlesen, und zwar im Aufsatz der französischen Schülerin Nicole: "Bei uns in Frankreich sind in der Regel Kinderspielplätze wichtiger als Parkplätze."

* Der aktuelle Weltrekord im Langstreckenschwimmen über 1500 Meter Freistil liegt bei 14:31 Minuten. Aufgestellt hat ihn Maos Landsmann Sun Yang 2012.

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