Sexueller Missbrauch:Nie mehr schweigen

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Patrik Sjöberg war der beste Hochspringer der Welt. Jahrelang wurde er von seinem Trainer sexuell missbraucht. (Foto: imago/Horstmüller)

Am heutigen Dienstag verkündet das Landgericht Lüneburg das Urteil gegen einen Rudertrainer, der Minderjährige missbraucht haben soll. Im Sport wird nun diskutiert, wie man solche Fälle künftig vermeiden kann.

Von Thomas Hahn

Patrik Sjöberg war noch ein sehr kleiner schwedischer Leichtathlet, zehn oder elf Jahre alt, als sein Trainer Viljo Nousiainen ihm sagte, dass er "wissenschaftliche Untersuchungen" an ihm vornehmen müsse. Es fühlte sich falsch an, aber Nousiainen war der Coach, also ließ Patrik es geschehen. Jahrelang ging das so. Nousiainen begann eine Beziehung mit Patrik Sjöbergs Mutter, bald lebte der junge Sportler mit seinem Peiniger unter einem Dach. Die sexuellen Übergriffe endeten erst, als Patrik damit drohte, zur Polizei zu gehen. Da war er 15.

Sjöberg machte eine glänzende Karriere als Hochspringer. Mit Nouisianen als Trainer wurde er Weltmeister 1987 und Weltrekordler. 1999 beendete Sjöberg mit 34 seine Athleten-Karriere. Im gleichen Jahr starb Nousiainen 55-jährig. 2011 erzählte Sjöberg von dem jahrelangen Missbrauch in seiner Autobiografie "Was Ihr nicht gesehen habt". Der Sender SVT fragte ihn damals, warum er so lange geschwiegen habe. Aus Scham, sagte Sjöberg. "Manchmal habe ich mich wie ein Komplize des Verbrechens gefühlt, weil mir klar wurde, dass er nach mir weitergemacht haben muss."

Sexueller Missbrauch von Kindern im Sport ist ein beklemmendes Thema, das es überall gibt und immer aktuell ist. In Deutschland wird man jetzt wieder daran erinnert, weil für diesen Dienstag vor dem Landgericht in Lüneburg das Urteil im Prozess gegen den früheren Trainer eines Rudervereins angekündigt ist, der drei Jungen im Alter von zwölf bis 14 Jahren in 71 Fällen missbraucht haben soll. Der Angeklagte hat eingeräumt, mit zwei der Jungen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, einer davon soll Autist sein, also besonders schutzbedürftig. Es sei ihm vor allem "um den Spaß der anderen gegangen".

Das einzig Gute an dem Fall ist, dass er vor Gericht gekommen ist. Dass Eltern dem Ruderverein erste Hinweise gaben. Dass der Verein ein Ermittlungsverfahren in Gang setzte. Denn Kindesmissbrauch in Institutionen ist lange ein Tabu gewesen. Die Täter konnten sich darauf verlassen, dass ihre Opfer sie aus Angst nicht belasteten oder dass ihnen keiner glaubte, wenn sie es doch taten.

Erst in den vergangenen zehn Jahren ist ein Bewusstsein für das Thema gewachsen. Nach Medienberichten über Missbrauch an Kirchen und Schulen trauten sich immer mehr Opfer an die Öffentlichkeit. Und bald fiel der Blick auch auf den Sport, der anfällig ist für Kindesmissbrauch wegen "des oftmals großen Vertrauensverhältnisses zwischen Mädchen, Jungen und Erwachsenen sowie der körperlichen Nähe, zum Beispiel durch Hilfestellungen bei Übungen", wie Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, erst kürzlich wieder dargelegt hat.

7,2 Millionen Mädchen und Jungen sind in den mehr als 90 000 deutschen Sportvereinen aktiv. Die Frage ist, wie man sie schützen kann vor Trainern, die falsche Absichten haben, ohne dadurch Vorurteile zu schüren. Und man kann nicht sagen, dass Sport und Politik dabei immer einig waren. Einer der Streitpunkte war anfangs die Expertenempfehlung, von Übungsleitern vor dem Einstieg grundsätzlich das erweiterte polizeiliche Führungszeugnis zu verlangen, um zumindest die Belasteten zu erkennen. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) wollte das nicht. Er befürchtete, die Vorgabe könne ehrenamtliche Trainer abschrecken.

Immer noch folgen zu wenige Vereine den Konzepten zur Vorbeugung sexueller Gewalt. Aber immerhin gibt es diese Konzepte jetzt. Sie bauen stark auf Aufklärung, auf Gesprächsangebote und darauf, Kinder so stark zu machen, dass sie Übergriffe nicht verschweigen. Auch die Vorlage des Führungszeugnisses ist zur Prävention im Grunde festgeschrieben; seit das neue Kinderschutzgesetz Anfang 2012 in Kraft getreten ist, dürfen Vereine und Verbände von ihren ehrenamtlichen Trainer-Kandidaten das Zeugnis verlangen. Allmählich kriecht der Kinderschutz tiefer hinein in den Sport. Erst Mitte März haben DOSB und Deutsche Sportjugend mit dem Missbrauchsbeauftragten Rörig vereinbart, dass sie bis Ende 2018 verstärkt Schutzkonzepte in Olympiastützpunkten und Eliteschulen einbringen werden. Außerdem läuft ein Forschungsprojekt mit der Sporthochschule Köln und der Uniklinik Ulm.

Aber hilft das auch?

"Eine relative Ohnmächtigkeit ist da", sagt Reinhard Krüger. Er ist der Vorsitzende des Landesruderverbandes Niedersachsen. Außerdem ist er der Vize-Vorsitzende des Lüneburger Ruder-Clubs Wiking von 1875, der die Folgen des Lüneburger Missbrauchsfalles aufzufangen hat. Der Verein des angeklagten Trainers ging kaputt, als dessen Taten bekannt wurden. Die Nachfragen von Presse und Staatsanwaltschaft verdarben den damaligen Funktionären die Freude an der ehrenamtlichen Arbeit. Der Verein ging im RC Wiking auf, nun ist Krüger also an der Aufarbeitung beteiligt. "Wir haben diesen Fall zum Anlass genommen, mit Unterstützung von einer Staatsanwältin und einer Richterin aus dem Verein, das Thema aktuell zu besprechen", sagt er. Außerdem nehme der Vorstand bei Trainingseinheiten, Regatten und Wanderfahrten seine Aufsichtspflicht wahr, gehe jedem Hinweis nach, lasse Ehrenerklärungen unterschreiben und verlange auch das erweiterte Führungszeugnis.

Viele Vergewaltiger haben sich im Sport hinter dem Leistungsdenken von Funktionären verschanzt

Krüger findet es hilfreich, dass der DOSB das Thema auf Lehrgängen und mit Informationsmaterial wach hält. Aber er will auch keine Illusionen wecken. Die Unterschrift unter eine Ehrenerklärung muss nichts wert sein. Ein falscher Verdacht kann von einem berechtigten ablenken. Und die Vorlage des Führungszeugnisses bringt auch nur etwas bei vorbelasteten Kandidaten. Der Angeklagte von Lüneburg ist 27, er kam aus der Jugend seines Vereins. "In seinem Fall ist das Mittel Führungszeugnis unbrauchbar", sagt Reinhard Krüger.

Es gibt keinen garantierten Schutz. Aber schon die Debatte ist ein Fortschritt. Viele Vergewaltiger haben sich im Sport hinter dem Leistungsdenken von Funktionären und sogar von Opfern verschanzen können - sie waren eben auch sehr gute Trainer. Viljo Nousiainen zum Beispiel. Patrik Sjöberg ging auch nicht von ihm weg, als seine Mutter sich von ihm trennte. "Das war für mich keine Frage", hat Sjöberg einst dem Fernsehsender SVT gesagt. Warum? "Ich war auf dem Weg, der beste Hochspringer der Welt zu werden."

© SZ vom 29.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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