Sekten:Die dunklen Geheimnisse von Bountiful

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In einer kanadischen Polygamisten-Sekte soll es Missbrauch und Mädchenhandel geben - die Behörden schauen weg. Sekten-Führer Warren Jeffs wurde im August in den USA verhaftet. In Kanada bleiben seine Anhänger unbehelligt.

Bernadette Calonego

Die einsame Landstraße windet sich durch hügeliges Gelände und steigt dann gegen die Berge an, auf die Grenzlinie zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten zu. Kein Auto, das diese Anhöhe zur abgeschotteten, weit verstreuten Siedlung Bountiful hochfährt, entgeht den wachsamen Blicken der fundamentalistischen Mormonen, von denen hier mehr als tausend leben. Spielende Kinder stieben wie auf Befehl davon.

Der "Prophet" im Gerichtssaal: Sektenführer Warren Jeffs im US-amerikanischen Gerichtssaal. (Foto: Foto: dpa)

Männer in langärmligen Hemden - ihre Arme müssen immer bedeckt sein - weisen Besucher mit dem Hinweis auf ,,Privatbesitz'' zurück. Manchmal erhaschen Fotografen trotzdem Bilder von an Bächen sitzenden Frauen in hochgeschlossenen langen Kleidern, ihre Kleinkinder auf dem Schoß. Und Augenzeugen erzählen, dass man überall zwischen den heruntergekommenen Gebäuden an Zäune aus Stacheldraht stoße.

Der "Prophet" war auf der Liste der meistgesuchten Männer

Die fundamentalistischen Mormonen, die in Bountiful seit mehr als 50 Jahren unbehelligt die Polygamie praktizieren, obwohl die Vielehe in Kanada gegen das Gesetz verstößt, müssen die Landschaft in dieser Ecke der Westprovinz British Columbia als Geschenk Gottes empfinden: Die Weiden mit den Pferden und die Obstbäume, die Äcker und dahinter die grauen Wände der Skimmerhorn-Berge, als könnten diese alles Unheil von ihrer isolierten Gemeinschaft fernhalten.

Dasselbe Unheil womöglich, das über die Mitglieder ihrer ,,Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage'' in den Vereinigten Staaten hereingebrochen ist, als deren untergetauchter Führer Warren Jeffs im August nahe Las Vegas verhaftet wurde.

Der selbsternannte ,,Prophet'' Jeffs hatte wie Osama bin Laden auf der FBI-Liste der zehn meistgesuchten Männer gestanden. Dem 50-Jährigen wird unter anderem Sex mit Minderjährigen und Beihilfe zur Vergewaltigung vorgeworfen. In seiner Sekte sollen Mädchen, manche erst 13 Jahre alt, gegen ihren Willen mit viel älteren Männern verkuppelt worden sein.

Auch im kanadischen Bountiful, das etwa acht Kilometer von der Kleinstadt Creston entfernt liegt, mussten junge Mädchen viel ältere Männer heiraten. Das sagt die heute 50-jährige Deborah Palmer, die einst als Schwangere mit ihren sieben Kindern Bountiful verließ. Über die nahe Grenze seien über viele Jahre minderjährige Mädchen aus den USA, manche erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt, zu diesem Zweck nach Bountiful gebracht worden. ,,Mädchenhandel'' nennt sie das.

22 Frauen und 107 Kinder

Während die offizielle Mormonen-Kirche die Polygamie 1890 aufgab, halten die fundamentalistischen Mormonen in Bountiful an der Regel fest, dass ein Mann für sein ewiges Seelenheil mindestens drei Frauen heiraten muss. Je mehr Frauen, umso mächtiger ist der Mann in der streng kontrollierten Gemeinschaft.

,,Sie praktizieren Polygamie schon seit Jahrzehnten, und die kanadische Regierung tut nichts dagegen'', sagt Deborah Palmer. Tatsächlich haben die Regierung in Ottawa und die Behörden in British Columbia den Standpunkt eingenommen, man könne gegen Polygamisten wegen der in der Verfassung garantierten Religionsfreiheit nicht vorgehen.

Inzest, Gehirnwäsche und Gewalt

British Columbia sei so zu einem ,,sicheren Hafen'' für amerikanische Polygamisten geworden, schrieb deshalb einmal die Zeitung Vancouver Sun. Frauen, die aus der Gemeinschaft geflohen sind, berichten jedoch noch andere Details aus Bountiful: Sie sprechen von sexuellem Missbrauch von Kindern und Frauen, Inzest, Ausbeutung, Gehirnwäsche und Gewalt.

Warren Jeffs hat Hunderte Anhänger in Bountiful. Die Gemeinschaft ist allerdings gespalten, seitdem er nach dem Tod seines Vaters Rulon Jeffs die Macht übernommen hat und Herr über etwa 10.000 Sektenmitglieder in Kanada und den USA geworden ist.

Er stieß Männer aus, die ihm im Weg standen, Familienväter wurden von ihren Kindern und Frauen getrennt, und Jeffs teilte die Frauen neuen Männern zu. Er verbot Musik und Fernsehen. In den US-Bundesstaaten Utah und Arizona hatte Jeffs seine eigene Polizei. Und 2002 exkommunizierte er den Kanadier Winston Blackmore, der lange als der künftige ,,Prophet'' gegolten hatte und der nun eine Schar von rund 600 Getreuen in Bountiful kontrolliert. Blackmore soll 22 Frauen und 107 Kinder haben. Deborah Palmer weiß nichts Gutes über ihn zu sagen.

Mädchen über die Grenze geschmuggelt

Sie kämpft schon seit Jahren gegen die Missstände in Bountiful, die sie am eigenen Leib erlitten hat. Als 15-Jährige heiratete sie den 57-jährigen Ray Blackmore, den damaligen Führer von Bountiful, wurde seine sechste Ehefrau und die Stiefmutter seiner 31 Kinder.

Drei Jahre nach der Heirat starb ihr Gatte, und sie wurde als 18-Jährige mit einem anderen Mann verheiratet, der dreimal so alt war wie sie und der seine fünf Frauen misshandelte. Nach einem missglückten Selbstmordversuch wies ihr die Führung von Bountiful einen neuen Ehemann zu, einen 38-Jährigen mit 20 Kindern.

Mit ihm bekam Deborah Palmer fünf weitere Kinder zu den zweien, die sie bereits hatte. Eines Tages fand sie heraus, dass ihre 13-jährige Tochter von einem Familienmitglied sexuell missbraucht worden war. Als sie begann, offen darüber zu sprechen, wurde sie bedroht. Als 1988 ihr Haus in Flammen aufging, floh sie.

Fast 20 Jahre kämpft sie nun schon gegen die Zustände in Bountiful. Sie hat es geschafft, dass 1992 drei Männer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurden. Sie sammelte auch die Namen von minderjährigen Mädchen, die über die Grenze geschmuggelt und verheiratet worden waren. Und seit neuestem liegt ein Polizeibericht über Bountiful auch dem Justizminister von British Columbia vor. Minister Wally Oppal erklärte zwar, ihn sorge der mögliche Kindsmissbrauch. Aber noch gibt es keine Anzeichen, dass Kanada mit Winston Blackmore gleich verfahren wird wie die USA mit Warren Jeffs.

Blackmore selbst will keinesfalls mit Jeffs verglichen werden. Er möchte sich auch nicht Prophet nennen, das wäre eine Beleidigung, sagt er, weil andere dieses Amt so schändlich missbraucht hätten. Am Telefon stellt sich der 51-Jährige als bescheidener Pfarrer und hart arbeitender Farmer dar, der an diesem Tag Zäune reparieren muss, die eine Herde Hirsche eingerissen hat.

Die Polygamie, sagt er, sei von der Bibel vorgeschrieben: ,,All die Leute, die Kontakt mit Gott hatten, Jakob, Abraham, Moses, waren auch Polygamisten.'' Er streitet nicht ab, dass in Bountiful früher 15-jährige Mädchen verheiratet wurden, aber heute halte er 18 Jahre für das angemessenere Alter. Missbrauch von Kindern? Darüber sei er auch besorgt, sagt er. Er habe ,,in dieser Frage stets eng mit den Behörden zusammengearbeitet''. Und Mädchenhandel? Das hält er für eine Beleidigung der Grenzbeamten: ,,Die schlafen doch nicht bei der Arbeit.''

Abschiebung gegen Polygamie

Die kanadische Regierung hat jedoch nun erstmals entschieden, drei Frauen, die illegal aus den USA nach Bountiful kamen, abzuschieben. Eine davon ist Zelpha Chatwin, eine hübsche, brünette Amerikanerin. Heute ist sie 32 Jahre alt, mit 20 Jahren hatte sie Winston Blackmore geheiratet - auf eigenen Wunsch, sagt sie, nach einem Besuch in Bountiful. Sechs Kinder hat sie ihm bereits geboren, und sie wehrt sich gegen die drohende Abschiebung. Zwar räumt sie ein, dass ihr das Leben mit Blackmores anderen Ehefrauen nicht immer leicht falle. Aber die Polygamie verteidigt auch sie.

Zelpha Chatwin müsste ihre fünf Söhne und die Tochter in Bountiful zurücklassen, wenn sie tatsächlich Kanada zu verlassen hätte. Audrey Vance, eine Bürgerin aus Creston, glaubt, solche menschlichen Tragödien hätten viel früher verhindert werden müssen. ,,Die Politiker haben zu lange einfach weggeschaut'', sagt sie. ,,Die dachten wohl, das Problem gehe einfach weg.'' Doch das Problem wird immer größer.

© SZ vom 7.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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