Schießerei:Der amerikanische Albtraum

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Ein Mann stürmt in eine Dorfkirche im texanischen Sutherland Springs und tötet 26 Menschen - inzwischen tragische Routine in den USA. Wer jedoch fassungslos zurückbleibt: die Angehörigen.

Von Sacha Batthyany und Beate Wild, Sutherland Springs/Washington

Jeden Monat die selben Bilder. Die Absperrbänder. Die Kerzen. Die Trauer. Die Angehörigen der Opfer, die fassungslos in die Kameras blicken und sagen, sie hätten nie gedacht, dass so etwas ausgerechnet bei ihnen passiert. Doch auch an diesem Sonntag ist es wieder passiert. Nur trugen viele der Angehörigen dieses Mal Cowboyhüte.

Mit der Massenschießerei von Sutherland Springs hat der Schusswaffen-Terror Metropolen wie Las Vegas, wo vor einem Monat 58 Menschen getötet und 527 verletzt wurden, verlassen und das ländliche Amerika erreicht: Die Felder goldgelb, die Kühe gut genährt, der Horizont unendlich weit, den Südosten von San Antonio, Texas, prägen idyllische Landschaften. Und raue Männer. Hier blicken sonnengegerbte Gesichter unter den breitkrempigen Cowboyhüten hervor, auf den Landstraßen fahren große Allrad-Trucks.

Die Orte heißen New Braunfels oder New Berlin, die Straßen "Schmidt" oder "Timmermann Road": Hinweise auf deutsche Siedler, die sich hier vor 200 Jahren niederließen. An diesem Flecken von Texas könnte sich der Besucher beinahe im Amerika der Fünfzigerjahre wähnen. Und was die Waffengesetze angeht, so klingt vieles nach einer Welt von gestern. In Texas darf jeder, der eine Waffenlizenz hat, seine Pistole offen tragen. Das Unglaubliche daran ist, dass dieses "Open Carry"- Gesetz für Pistolen und Revolver erst 2016 in Kraft trat. Die Waffengesetze wurden im Laufe der Zeit also nicht etwa strenger. Im Gegenteil.

Dass sich die Waffengesetze ändern könnten, daran glaubt 2017 keiner mehr

Wie nach jedem Massaker folgte auf Twitter die Anteilnahme der Politiker, die im Waffenland USA längst zu leeren Phrasen verkommen sind. Der ehemalige Präsident Barack Obama sprach von einer "traurigen Routine" - und konnte daran nichts ändern. Senator Ted Cruz sprach bereits Minuten nach dem Massaker seine "ersten Gebete" aus. Präsident Donald Trump, zurzeit in Asien, schrieb: "Möge Gott bei den Menschen in Sutherland Springs sein." Dass sich an den Waffengesetzen in naher Zukunft allerdings etwas ändern könnte, daran glaubt auch nach den Anschlägen im Jahr 2017 kaum mehr jemand. Trump sprach nach der Schießerei Las Vegas vage davon, möglicherweise eine Debatte über Waffen-Regulierungen zu führen, "doch noch ist es zu früh." In Wahrheit saß er das Massaker aus und wartete, bis Gras darüber gewachsen war. Bis es wieder passieren würde.

Las Vegas war vor einem Monat. Am Sonntag dann kam der Tod in die texanische Idylle. Ein 26-Jähriger, den anonyme Polizeiquellen laut New York Times als Devin Patrick K. aus New Braunfels identifiziert haben, stieg dort am Sonntagmorgen vor der First Baptist Church im Dorf Sutherland Springs aus seinem Auto. Ganz in Schwarz und mit einer schusssicheren Weste ausgestattet. Ohne zu zögern begann er, mit einem halbautomatischen Sturmgewehr auf die Kirche zu schießen. Dann betrat er das Gotteshaus, in dem gerade die Sonntagsmesse gefeiert wurde. Und schoss mit einem Gewehr, das er laut Medienberichten in einem Laden in San Antonio erwarb, weiter. Er tötete mindestens 26 Gläubige, weitere 20 wurden verletzt. Die Opfer sind laut Polizei zwischen fünf und 72 Jahre alt, auch eine Schwangere ist unter den Toten, sowie die 14-jährige Pastorentochter.

Trauernd und fassungslos: Die Angehörigen der Opfer brennen am Sonntagabend in Sutherland Springs, Texas, Kerzen an. Ein Mann hatte dort 26 Menschen in einer Kirche erschossen. (Foto: Laura Skelding/dpa)

Als K. die Kirche verließ, nahm ein Dorfbewohner sein eigenes Gewehr zur Hand und begann, auf ihn zu feuern. Kelley ließ daraufhin seine Waffe fallen, sprang in sein Auto und raste davon. Der Nachbar nahm die Verfolgung auf und informierte von unterwegs aus die Polizei. Als ein paar Meilen weiter einige Streifenwagen auftauchten, stoppte K. den Wagen am Straßenrand. Die Beamten fanden ihn leblos hinter dem Steuer. Zur Stunde sei noch nicht klar, ob sich der Täter die tödlichen Wunden selbst zufügte oder ob sie vom Nachbarn stammen, der ihn verfolgte, sagte Albert Gamez Jr., Polizeipräsident von Wilson County, auf einer Pressekonferenz.

Wenige Stunden nach der Tragödie holt sich Rusty Lopez in einer Tankstelle nahe der Kirche ein paar Getränke. Es ist die Tankstelle, an der der Täter kurz vor dem Massenmord gesehen wurde. Durch die Fensterscheiben sind die blinkenden Lichter der Polizeiwagen zu sehen, die den Tatort sichern. Lopez, ein Schrank von einem Mann ist, sieht mitgenommen aus an diesem Sonntagnachmittag. "Wer ist der Kerl?", fragt er und blickt seine beiden Kumpel an. "Warum ist er ausgerechnet hierher gekommen? Warum musste er so viele Menschen töten?"

Die drei Freunde stammen aus dem Nachbarort. Einige der Menschen, die am Vormittag in der Kirche ihr Leben verloren haben, sind Bekannte von ihnen. Hier auf dem Land kennt man sich. Sutherland Springs, das 50 Kilometer südöstlich von San Antonio liegt, hat nur etwa 400 Einwohner. Es gibt nur zwei Tankstellen, eine Postfiliale und einen Ein-Dollar-Laden.

Mit dem Massaker am Sonntag ist das kleine Sutherland Springs Schauplatz eines traurigen Rekords geworden: Es ist der Schusswaffen-Massenmord mit den meisten Toten, der je in in einer religiösen Stätte in den USA begangen wurde - und auch die Massenschießerei mit den meisten Opfern im Bundesstaat Texas. Das bislang bekannteste Massaker in einer Kirche ereignete sich 2015 in Charleston, South Carolina. Dabei erschoss der weiße Neonazi Dylann Roof während einer Bibelstunde in einer afroamerikanischen Kirche neun Gläubige. Er wurde dafür später zum Tode verurteilt.

Über K., den mutmaßlichen Täter von Sutherland Springs, wurde inzwischen bekannt, dass er vor drei Jahren wegen schlechter Führung aus der Air Force entlassen wurde: Wegen Misshandlung seiner Ehefrau und des gemeinsamen Kindes hatte ihn ein Gericht zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Die Ermittler fanden in dem Auto, in dem K. nach der Tat starb, mehrere Waffen.

Als die Dämmerung am Sonntag langsam anbricht, stehen an der Absperrung zum Tatort noch immer zahlreiche Kamerateams. Die Reporter machen vor den blinkenden Polizeilichtern ihre Aufsager für die Nachrichtensendungen. Vor dem Haus schräg gegenüber sitzen zwei ältere Männer in Shorts auf der Veranda und beobachten, wie eine Gruppe FBI-Ermittler mit ihren schwarzen Jacken mit den gelben Buchstaben um die Kirche streifen.

Willie trägt einen sehr breitkrempigen Cowboyhut, dazu Lederstiefel und ein Westernhemd. Seinen Nachnamen will er nicht sagen. Dem schwerfälligen Gang und der ledernen Haut nach zu urteilen hat er seinen 80. Geburtstag bereits hinter sich. Schnaufend bleibt er vor der Absperrung stehen, schiebt sich den Hut in den Nacken und schüttelt unablässig den Kopf. "Nicht zu fassen, unglaublich", murmelt er immer wieder mit brüchiger Stimme. Mehr will er nicht zu den Reportern sagen, er habe ja nichts gesehen. Nur: "Es trifft uns mitten ins Herz." Dann stürmen auch schon ein paar Kamerateams auf ihn zu.

Als es dunkel ist, treffen sich in der Nähe an der Kirche mehr als 100 Menschen, unter ihnen Greg Abbott, der Gouverneur von Texas. Abbott wird am nächsten Tag in die Fernsehkameras sagen, dass dem Schützen einst eine Lizenz fürs Herumtragen einer Pistole entzogen wurde. "Wie kam er trotzdem zu seiner Waffe? Wie ist das möglich?", wird er fragen. Journalisten werden weitere Hintergründe des Täters aufspüren. Die Demokraten werden Forderungen stellen, die Republikaner werden mauern, die Waffenlobby National Rifle Association (NRA) wird, wie immer in solchen Momenten, den Kopf einziehen und warten und irgendwann eine Studie veröffentlichen, dass solche Massaker ja doch nicht zu verhindern sind.

An diesem Sonntag aber halten sich alle an ihren Kerzen fest, mal wieder. Viele weinen, die Frage nach dem Warum in den Augen. Es sind die immer gleichen Bilder.

© SZ vom 07.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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