Schicksal einer HIV-infizierten Mutter:"Deine Krankheit heißt gar nicht Fresszellchen"

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Das Unfassbare fassbar machen: Als Zübeyde die Diagnose "HIV-positiv" bekommt, ist ihre Tochter gerade einmal vier Jahre alt. Dennoch entscheidet sich die alleinerziehende Mutter, mit ihrem Kind offen über ihre Infektion zu sprechen.

Charlotte Frank

Naomi war sieben, als sie ihrer Mutter die Wahrheit ins Gesicht schleuderte: "Ich weiß es schon lange", sagte sie: "Deine Krankheit heißt gar nicht Fresszellchen." Zübeyde nickte. Sie hatte gewusst, gefürchtet, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. "HIV", sagte sie, "Mama hat HIV."

Zübeyde vermutet, dass sie sich bei ihrer Tätigkeit als Krankenschwester mit dem HI-Virus angesteckt hat. (Foto: Robert Haas)

Für normale Siebenjährige wären das wohl einfach drei langweilige Buchstaben gewesen. Für Naomi war es mehr: HIV, so hieß also der Grund dafür, dass ihre Mutter so oft blass war und müde, manchmal fast grau im Gesicht. HIV, so hieß das Virus, über das ihre Mutter einmal gesagt hatte, sie könne es nie wieder loswerden. "Aber ich verspreche dir, alles dafür zu tun, es in Schach zu halten", hatte sie dann noch gesagt.

HIV-positiv und Mutter sein? Ja, das geht!

Drei Jahre ist dieses Gespräch nun her, und Zübeyde, 43, hat ihr Versprechen gehalten: Sie sieht gesund aus, kräftig, lacht viel. Genau wie auf den Fotos, die zuletzt tausendfach von ihr zu sehen waren, auf Plakaten, im Internet, auf Flyern, in einer großangelegten Präventionskampagne des Bundesgesundheitsministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

"HIV-positiv und Mutter sein?" stand da, als Frage. Zübeyde daneben wirkte wie ein Ausrufezeichen: Ja, das geht! Dieses Zeichen zu setzen, sagt sie, war ihr den Preis wert, dass jetzt wirklich jeder von ihrer Infektion weiß.

Warum auch nicht?", fragt sie. Seit Zübeyde vor sieben Jahren erfahren hat, dass sie HIV-positiv ist, geht sie offen damit um - und trifft trotzdem oft auf Verschlossenheit. HIV, das ist für viele noch ein Leiden, an dem die Betroffenen selbst schuld sind und die man deshalb besser meidet. Wer Menschen wie Zübeyde trifft, erkennt, wie ungerecht das ist.

Zübeyde arbeitete in London als Krankenschwester, sie vermutet, dass sie sich dabei infiziert hat. Ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte sie jedenfalls nicht, sagt sie, deshalb schöpfte sie auch keinen Verdacht, als sie, zurück in Deutschland, ständig schlapp war und kränkelte. "Als alleinerziehende Mutter erschien das allen normal", sagt sie. Aber ihre Kräfte schwanden immer weiter. Als Naomi vier war, waren sie fast ganz fort. Im Krankenhaus fanden die Ärzte endlich den Grund: Aids.

"Das geht nicht! Ich habe ein Kind!" war Zübeydes erster Gedanke, erinnert sie sich, der zweite war noch schlimmer: Was, wenn sie Naomi angesteckt hätte? "Die drei Tage bis zu ihrem Testergebnis waren die schwersten meines Lebens", sagt sie, aber immerhin blieb ihrer Familie dieser nächste Schlag erspart: Naomi trägt das Virus nicht in sich.

Trotzdem drehten Zübeydes Gedanken sich auch nach der Entwarnung nur um ihre Tochter: Wie sollte das gehen, HIV-positiv und Mutter sein? Schlimmer noch: HIV-positiv und alleinerziehende Mutter sein? Wie könnte sie weiter für ihre Tochter da sein? Und wie sollte sie ihr das alles erklären? Sollte sie überhaupt?

Wenn Mütter oder Väter HIV-positiv getestet werden, tun sie sich oft schwer, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Zu unfassbar ist die Infektion für Kinder, zu bedrohlich und eben immer noch: zu stigmatisiert. Es gibt Eltern, die die Krankheit jahrelang vor der Familie geheim halten, und Eltern, die ihren Kindern verbieten, darüber zu sprechen.

Zübeyde entschied sich anders. "Ich habe es Naomi früh, aber in kleinen Dosen erklärt", sagt sie. "Ich habe ihr auch gesagt, sie darf es überall erzählen." Sie wollte nicht, dass Naomi mit einem Geheimnis aufwachsen muss. Und so kam das mit den Fresszellchen.

Die kleinen Fresszellen, so erklärte Zübeyde ihrer Tochter, seien clever und böse. Sie würden durch ihr Blut schwimmen und dort die guten Zellen angreifen. Mit Tabletten könne sie die Fresszellchen zwar bekämpfen, aber weil die so clever seien, würden sie immer Verstecke finden, in denen sie sich ruhig hielten, jahrelang, ohne aber je aufzugeben.

Dieses Stadium hat Zübeyde inzwischen erreicht. "Im ersten Jahr nach der Diagnose habe ich noch an der Lebensgrenze gelebt." Aber ihre Freunde waren immer da, kümmerten sich um Naomi, glaubten an Zübeyde und bekräftigten sie darin, dass das geht: Trotz des Virus für ihre Tochter da zu sein. Mittlerweile hat die Therapie so gut angeschlagen, dass Zübeyde sogar wieder arbeiten kann, halbtags bei einem Pflegedienst.

Und Naomi? Ist eine fröhliche Zehnjährige, die gerne tanzt und Klavier spielt und als einzige ihrer Freundinnen das Wort "Aids" lesen kann - und verstehen.

Zübeyde erzählt mit sichtbarem Stolz von ihrer Tochter, von ihren Schulnoten, ihrem Dickkopf, ihrem Hund. Zum Schluss lehnt sie sich kurz zurück und lächelt. Sie sagt: "Ich weiß jetzt, ich kriege sie groß."

© SZ vom 01.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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