Russland:Lass die Nase nicht hängen

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Ausgerechnet eine holländische Skulptur begeistert die Russen. Offenbar verkörpert sie besonders gut ihr Lebensgefühl.

Von Julian Hans, Moskau

Es hat in jüngster Zeit einige Aufregung gegeben um Denkmäler in Russland. Über neue Stalin-Büsten, die in der Provinz auftauchten. Über das Standbild für Iwan den Schrecklichen in Orjol, der nicht nur als Sadist und Vergewaltiger bekannt ist, sondern den russischen Staat auch an den Rand des Abgrunds geführt hat. Und natürlich über die 17 Meter hohe Statue für den Fürsten Wladimir, der der Kiewer Rus im Jahr 988 das Christentum brachte. Als der Koloss nach langem Hin und Her im November einen Platz vor dem Kreml in Moskau fand, spotteten einige, in Wahrheit gelte das Denkmal wohl einem anderen Wladimir, der wenige Schritte entfernt seiner Arbeit als Präsident nachgeht.

Keiner dieser Skulpturen schlug aber so viel Sympathie entgegen, mit keiner identifizierten sich spontan so viele Menschen in Russland wie mit dem Schdun. Die Figur mit der hängenden Nase, den dünnen Ärmchen und den gefalteten Händen über einem zerfließenden Körper hat wenig Heldenhaftes an sich. Und als die niederländische Künstlerin Margriet van Breevoort sie 2016 formte, dachte sie weder an Russlands große Geschichte, Gegenwart oder Zukunft, sondern an ein Wartezimmer beim Arzt.

Die Plastik mit dem Gesicht eines See-Elefanten auf einem menschlichen Körper wurde vor die Universitätsklinik in Leiden in der Provinz Südholland gesetzt und trägt eigentlich den Titel "Homunculus Loxodontus" (Elefantenmensch). Aber seit Fotos von ihr Anfang des Jahres den Weg ins russischsprachige Internet fanden, ist sie dort als Schdun bekannt, was so viel bedeutet wie "Der Wartende", aber viel zärtlicher klingt.

Und da der Betrachter in einem Kunstwerk bekanntlich nicht in erster Linie die Intention des Künstlers erkennt, sondern vor allem sich selbst, überbieten sich die Russen im Internet mit Interpretationen, worauf der Schdun wohl warten könnte: Auf die Fertigstellung der Brücke vom russischen Festland auf die Krim. Auf die Aufhebung der Sanktionen. Auf die Visa-Freiheit für die Ukrainer in die EU. Oder nur auf den IT-Support. An aussichtslosen Perspektiven herrscht jedenfalls kein Mangel. Die sympathische Plastik bietet sich auch deshalb an, weil die Aufmunterung "Lass den Kopf nicht hängen" im Russischen heißt: "Lass die Nase nicht hängen."

Selbst für tiefgründige politische Analysen dient der "Schdun" inzwischen als Vorlage

Fleißige Memes-Bastler haben den Schdun in Treffen Wladimir Putins mit dem Kabinett montiert und in bekannte Werke der russischen Malerei. Er sitzt an der Stelle von Walentin Serows "Mädchen mit den Pfirsichen" und vor Viktor Wasnezows "Recke am Scheideweg". Selbst für tiefgründige politische Analysen dient der Schdun inzwischen als Vorlage. In einem großen Essay in der Tageszeitung Wedomosti legte Dmitrij Trawin, Wirtschaftsprofessor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg, jüngst dar, warum der Schdun das moderne Russland verkörpert wie keine andere Figur. "Der russische Schdun ist traurig und träge, aber sympathisch", er habe Fett angesetzt und die Hände in den Schoß gelegt, "denn im Land herrscht schon lange Stagnation, und es fehlen alle Voraussetzungen für politisches, gesellschaftliches oder wirtschaftliches Engagement." Trotzdem resigniere der Schdun nicht, schließlich sei er Optimist: "Er hat sich in sich zurückgezogen und wartet."

Je nach Alter und Weltanschauung warte er auf etwas anderes, analysiert Trawin: Der konservative Schdun wartet darauf, dass der Präsident sich endlich vom Einfluss der Liberalen befreit und seine Russland-zuerst-Politik konsequent durchzieht. Der liberale Schdun glaubt dagegen, dass der Präsident viel zu lange auf Leute aus Militär und Geheimdienst gehört habe und hoffentlich bald erkenne, dass das der Wirtschaft schadet. Während der alte Schdun auf die Wiedergeburt der Sowjetunion wartet, wartet der junge auf einen einträglichen Posten bei Gazprom.

Trawin glaubt, dass das geduldige Mischwesen alles mitbringt, um das heimliche National-Maskottchen Tscheburaschka abzulösen, jene kulleräugige Fantasiefigur mit den großen Ohren aus dem Kinderprogramm des sowjetischen Fernsehens. Dass der Schdun aus den Niederlanden komme, sei dabei kein Hindernis, im Gegenteil: Schließlich sei alles, was heute in Russland als ursprünglich betrachtet werde, einst von Peter dem Großen aus Holland mitgebracht worden. Der Schdun habe sich lediglich um ein paar Hundert Jahre verspätet.

© SZ vom 15.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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