Rheinland-Pfalz:Die inneren Werte

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Goldene Jahre: eine Postkarte aus der Zeit, als in Pirmasens noch Schuhe besohlt wurden. (Foto: N/A)

Niedrige Lebenserwartung, hohe Arbeitslosigkeit, leere Häuser: Die Stadt Pirmasens gilt vielen als das Beispiel für missglückten Strukturwandel, in Statistiken kommt sie schlecht weg. Ein Ortstermin.

Von Gianna Niewel

Im Schaufenster liegen drei tote Fliegen, eine tote Biene, ein Saugnapf, Staubflusen. Vor dem Schaufenster eine Sitzbank. Das Holz splittert. Im Schaufenster nebenan hängt hinter Gitterrollos ein gelbes Schild "zu vermieten". Die Sonne hat das Schild gebleicht.

Pirmasens, Westpfalz, sieben Hügel, viel Wald. Michael Schieler sitzt in seinem Büro im Rathaus am Exerzierplatz. Von hier aus sieht er die Journalisten, die unter seinem Fenster die Kameras aufbauen und die leeren Schaufenster filmen. Dann schwenken sie einmal über den Platz: verblasster Marmor, Palmen, dann cyanblaue Streben, die aussehen, wie die Nase eines Raumschiffs. Es ist der Ausgang der Tiefgarage. Die Journalisten kommen in seine Stadt wie Kriegsberichterstatter. Dann packen sie die Kameras und Mikrofone wieder ein. Und manchmal kommen sie gar nicht erst, es werden genug Meldungen über die Agenturen gejagt, um Pirmasens auch vom Redaktionsbüro aus niederzuschreiben.

"Früher sterben in Pirmasens" ( Der Spiegel, 10. Juni 2017)

Michael Schieler ist Bau- und Finanzdezernent und, noch wichtiger, er lebt hier. Er sagt: "Keine Stadt ist überall schön." Das Problem: Pirmasens hat den Ruf, nirgendwo schön zu sein. Michael Schieler schiebt den Bürostuhl zurück, streift sein Hemd glatt, und als er durchs Treppenhaus nach draußen läuft, ist nicht ganz klar, ob er etwas zeigen oder etwas widerlegen will.

Früher lebten hier so viele Millionäre wie sonst nirgendwo in Deutschland

Vor dem Rathaus der Platz mit den Palmen und den Raumschiff-Streben. "Wie in Rom hier", sagt Schieler, und jeder, der schon mal auf dem Petersplatz stand, weiß, dass der Vergleich mehr Wunsch ist als Wahrheit. Er geht die Höfelsgasse entlang, ja sicher, versiffte Fassaden, aber sehen Sie hier? Die Stadt hat den Kreisel am Dr.-Robert-Schelp-Platz neu gebaut und mit Primeln bepflanzt. Er schaut sich um. Nach dem Krieg bauten die Pirmasenser die Häuser funktional. Vier, fünf Etagen hoch, Betonkästen. Man kann das hässlich finden. Man kann aber auch sagen, dass es eine deutsche Baugeschichte ist. Aufbau West. Michael Schieler läuft weiter, zeigt hier, die Alte Post, Neorenaissance, dann da, der Schusterbrunnen. An der Seite steht gemeißelt: "Der Schuh hat hier uns groß gemacht, drum Schuh und Schuster nicht veracht." 350 Schuhfabriken hatte die Stadt, 25 000 Menschen, die Leder schnitten und Rahmen vernähten. Die Pirmasenser sagen "Schlabbeflicker". Sie sprechen das weich aus. In der Stadt lebten so viele Millionäre wie sonst nirgendwo in Deutschland. Das alles war, bevor Inder und Pakistaner für weniger Lohn die Sohlen stanzten. Bevor 1997 auch die US-Kaserne schloss, die Soldaten und Offiziere wegzogen und noch einmal Kaufkraft verloren ging. Pirmasens hat heute 42 120 Einwohner. Um in der Schuhfabrik zu arbeiten, brauchten die Jungs und Mädchen keinen Schulabschluss, und als sie arbeitslose Erwachsene waren, holten viele die mittlere Reife nicht nach. Arbeitslosenquote 12,9 Prozent.

"Pirmasens, abgehängt" ( Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22. Mai 2016)

Nach den Journalisten beugten sich die Sozioökonomen über Pirmasens, um den Strukturwandel zu analysieren. Sie spannten feine Fäden, zwischen mangelnder Bildung und Übergewicht, zwischen Armut und Schlaganfallsrisiko, sie sprachen von Ursache und Wirkung. Nirgendwo sterben die Menschen früher als in Pirmasens, neugeborene Jungen werden hier durchschnittlich 73 Jahre alt - in Starnberg werden sie 81,3 Jahre. Was passiert mit einer Stadt, der die Mittelschicht wegbricht?

Sicher, sagt Michael Schieler, sie haben Probleme. Allen voran fehlt es an Geld, 350 Millionen Euro Schulden. Aber das fehlt in anderen Gemeinden auch. Gröde in Schleswig-Holstein, St. Wendel im Saarland, Oberhausen, Darmstadt. Alle pleite. Und trotzdem leben da Menschen, arbeiten, halten es aus, dass ihre Heimat nicht überall schön ist. Es sind Gemeinden, die Werbeagenturen beauftragen, die sich Slogans ausdenken, die sie dann auf Schilder schreiben und an der nächsten Autobahnausfahrt in den Boden rammen. "Leben, wo andere Urlaub machen", diese Preisklasse. Es ist ein Ringen um die Deutungshoheit der eigenen Stadt. Und oft ist es übertrieben.

In Pirmasens haben sie sich geeinigt auf "Pirmasens bewegt". Bewegen, das klingt nach "vorankommen". Sie haben eine alte Schuhfabrik zum Dynamikum umgebaut, einem Technikmuseum, dann zu Büroräumen. Arbeitsplätze für die Mittelschicht, damit die Mittelschicht bleibt. Und die Hauptpost, Jugendstil, soll zu einer Jugendherberge werden. Vielleicht haben sie gemacht, was man machen kann. Nur: Was hilft das, wenn die Geschichte, die man sich über diese Stadt in Deutschland erzählt, keine Korrekturen zulässt?

"Pleitestadt Pirmasens" ( Süddeutsche Zeitung, 5. März 2008)

Nun weiß Michael Schieler, dass es nicht nur darum geht, Mittelstufenklassen nach Pirmasens zu locken, die durchs Dynamikum laufen, abends zu Rum-Cola im Strecktalpark knutschen und sonntags wieder nach Hause fahren. Es geht darum, dass die eigenen Kinder bleiben. Der Bürgermeister, die Dezernatsleiter, sie haben sich zusammengesetzt und überlegt. Sie hatten kein Geld, aber Ideen. Eine davon: Der "Pakt für Pirmasens". Firmen, Vereine, Pirmasenser spenden Geld in einen Topf, das Geld wird dann weiterverteilt an Familien, die es brauchen. Für Turnschuhe und Mathe-Nachhilfe und die Klassenfahrt.

75 Euro pro Quadratmeter Bauland - wo gibt es so etwas noch?

Und deshalb hat Michael Schieler noch eine andere Geschichte zu erzählen. Er ist jetzt 62 Jahre alt, er war in Seattle, Hongkong, unter anderem, er ist durch Kambodscha gereist - aber er ist immer wieder gern zurückgekommen. Einfamilienhaus, Garten. Manchmal fährt er nach Feierabend mit dem Rad nach Frankreich, Grenzregion, trinkt einen Vin Blanc und fährt wieder zurück. Er lacht. Man verklärt, was man liebt. Andererseits: So günstig wie hier lebt man kaum. 75 Euro pro Quadratmeter Bauland. Und, ja, zu viele Einfamilienhäuser dafür, dass Single-Haushalte gebraucht werden, ihm erzählt niemand was Neues. Aber sie bemühen sich auch hier, die Stadt baut die Straßen aus, an der B 10 wird gebaggert. Die Jungen sollen schnell wieder zurückkommen können. Von Homburg, wo sie vielleicht studieren. Von Saarbrücken, wo sie im Staatstheater waren. Gegen bewohnte Einfamilienhäuser kann niemand etwas haben. Michael Schieler steht wieder vor dem Rathaus. Er hat alles gezeigt, die Schlosstreppe, die Lutherkirche, es muss jetzt reichen. Pirmasens ist aushaltbar.

Nächste Nachricht: Der FK Pirmasens steigt ab. Schieler lacht. Nicht gut. Aber vergleichsweise verkraftbar.

© SZ vom 05.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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