Reportage:Bodentruppen mit Fieberthermometer

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Alte Talente zur Observation kommen in Zeiten von SARS wieder gelegen: Nachbarschaftskomitees überwachen Pekings Bewohner.

Kai Strittmatter

(SZ vom 15.5.2003) - Soll erst mal versuchen, an ihm vorbei zu kommen, das Virus. "Wir haben unseren Block abgeriegelt", meldet Zhang Jian, der Mann mit der roten Armbinde. Er seufzt, zufrieden: "Gar nicht so einfach, bei 2000 Menschen."

Zwei große Tafeln hat er bemalt mit Durchhalte-Parolen, jetzt wissen die Bewohner alles über die Strategie der "Vier Früh": "Früh SARS erkennen, früh berichten, früh isolieren, früh heilen!", heißt es da.

Neben den Tafeln am Tor haben sie ihren Schreibtisch aufgestellt: Heute schieben Frau Qiao und Frau Li aus Block drei Wache. Passkontrolle, Fiebermessen. Aus der Schublade ziehen die Damen ein Quecksilber-Thermometer, wischen es kurz ab: "Fünf Minuten unter die Achselhöhle stecken", erklären sie.

Aber nicht doch, wehren sie kichernd ab, beim Herrn Journalisten verzichte man gerne darauf, so gesund, wie er aussehe.

Sie sind die Bodentruppen im Kampf gegen SARS: die Männer und Frauen vom Nachbarschafts-Komitee. "Sicherheits-Patrouille" steht auf Zhang Jians Armband, er ist der Vorsitzende. Es ist harte Arbeit, 16 Stunden am Tag, aber, sagt er: wenn das Vaterland rufe, dann stehe er bereit.

"Spucken traut sich hier keiner mehr"

Zhang möchte gerne in die KP, hat einen Antrag gestellt. Hou Guiying ist schon drin, sie ist die Parteisekretärin hier und meint, ehrlich gesagt sei sie schon etwas müde. Hilft nichts: "Wir müssen wachsam bleiben."

Kein Infizierter darf herein schlüpfen, in den Hof Nummer 10 der Hepingli-Oststraße. Sie müssen desinfizieren, die Bewohner aufklären, zu Hygiene erziehen: "Spucken traut sich hier keiner mehr", erklärt Zhang stolz, dann stockt er: "Naja, wenigstens wenn ich in der Nähe bin."

"Kleinfüßige Polizei"

Die Nachbarschafts-Komitees sind so alt wie die Volksrepublik. Im Herrschaftssystem der Kommunisten sind sie die unterste Einheit. Früher waren sie vor allem mit pensionierten Männern und Frauen besetzt, die mit Hingabe das Leben jeder Familie bis ins Schlafzimmer hinein auszuspionieren pflegten.

"Kleinfüßige Polizei" nannte man sie, der gebundenen Füße mancher alten Frauen wegen. In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Komitees gewandelt, sind ihre Mitglieder jünger geworden und verstehen sich mehr als Dienstleister und Sozialarbeiter: Sie helfen bei der Arbeitsvermittlung, kümmern sich um die Alten. "Wir schlichten Streit", erzählt Zhang Jian, der zuvor Arbeiter in einer Maschinenfabrik war. "Und leiten einen Chor und eine Tanzgruppe für unsere Senioren."

Jagd auf Kakerlaken und Falun-Gong-Anhänger

Modern sei man geworden: "Wir haben jetzt Computer und eine Karaoke- Anlage." Noch immer aber gilt: "Alle Politik von oben wird von uns hier umgesetzt."

Und so spürt man am einen Tag die Kakerlaken auf in ihren Nestern und am anderen die "unverbesserlichen Anhänger ketzerischer Kulte" (Parteisprache für: Falun Gong) in ihren Wohnungen.

Auch jetzt verlieren die Komitees das Wohl der Regierung nicht aus dem Auge: "Die Leute haben Angst", sagt Parteisekretärin Hou. "Und wir erklären ihnen, dass die Regierung gut auf sie aufpasst." Offensichtlich halten sie diese Erklärung für notwendig nach den Ereignissen der letzten Wochen.

Feierlicher Schwur

Die fünf Nachbarschafts-Kader von Hof Nummer 10 selbst wollen mit gutem Beispiel voran gehen; am 26. April kamen sie zusammen und legten einen feierlichen Schwur ab: "Wir geloben, in der Schlacht gegen SARS alles für unser Volk zugeben."

Mit dem Volk sind sie im Moment sehr zufrieden: "Alle Familien machen mit und schieben im Schichtdienst Wache", berichtet Hou. "Eigentlich hat uns SARS einander näher gebracht. Früher haben sich viele nicht einmal gegrüßt."

Die alten Talente zur Observation kommen plötzlich wieder gelegen. Die Leute fürchten sich vor Krankenhäusern. Was also, wenn einer krank wird, sich aber zuhause versteckt? "Die Nachbarn passen sehr gut auf", lobt Büroleiterin Wang Jingzhi von der Straßen-Behörde, der insgesamt 26 Nachbarschafts-Komitees in Hepingli unterstehen: "Wir bekommen immer wieder Hinweise: ,Hey, der XY hat sich zwei Tage hinter einander Medizin gekauft!' oder ,Habt Ihr gemerkt, dass sich Frau Soundso mit einem Mal so warm anzieht?'"

"Netzwerk von Aktivisten"

Elf Bewohner, meist Verwandte von SARS-Patienten, stehen im Hepingli-Viertel unter Quarantäne, dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen. "Wir bringen ihnen, was sie brauchen", sagt Wang. Gleichzeitig habe man ihre Fotos an die Polizeiwachen gegeben. "Und ab und zu fahren wir unten vor, und verlangen von ihnen, sich am Fenster zu zeigen. Wenn sie uns zuwinken, wissen wir, dass alles in Ordnung ist."

Über Hof Nummer 10 wacht ein "Netzwerk von Aktivisten", der Stolz von Sekretärin Hou. Kürzlich habe sie einer angerufen, weil nebenan ein neuer Mieter einzog: Ein Umzug in diesen Zeiten, da werde man schon misstrauisch.

"Wir sind dann hin, und haben höflich gesagt: Entschuldigung, bitte erst Fiebermessen!", erzählt Hou. "Der Neue war sehr kooperativ - aber vor lauter Nervosität hat er richtig geschwitzt, und wir haben über 37 Grad gemessen. Am Abend dann haben wir ihn ein zweites Mal besucht: 36,6 Grad. Kein Problem!"

(sueddeutsche.de)

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