Raubmord in örtlicher Sparkassenfiliale:Ein Urteil, das Entsetzen auslöst

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Überraschend ist ein württembergischer Dorfbäcker trotz einer erdrückenden Fülle belastender Indizien freigesprochen worden.

Hans Holzhaider

"Der Angeklagte wird freigesprochen" - vier Worte, die einschlagen wie ein Blitz. Ein entsetztes Aufstöhnen geht durch den Schwurgerichtssaal im Landgericht Heilbronn.

Der Bäcker von Siegelsbach, Alfred B., mit seiner Anwältin: Sein Freispruch rief Entsetzen unter den Dorfbewohnern hervor. Der Fall war so klar erschienen. (Foto: Foto: dpa)

Fast auf den Tag genau ein Jahr lang hat das Gericht über eine, wie es der Vorsitzende Richter Wolfgang Bender formuliert, "unglaublich grausame und brutale Tat" verhandelt, ein Verbrechen, das am 7. Oktober 2004 die knapp 1700 Einwohner zählende Gemeinde Siegelsbach im Landkreis Heilbronn in einen regelrechten Schockzustand versetzt hat.

Bei einem Überfall auf die örtliche Sparkassenfiliale hatte der Täter eine 65-jährige Hausfrau mit zwei Schüssen ins Gesicht getötet. Dem Ehemann der Getöteten schoss der Räuber ins Genick, einem 29-jährigen Bankangestellten zertrümmerte er mit dem Kolben seiner Pistole den Schädel. Beide überlebten wie durch ein Wunder, und beide waren sich sicher, wer die Tat begangen hatte: Der Bäckermeister Alfred B., der Inhaber der einzigen Bäckerei in Siegelsbach.

Ungläubiges Entsetzen herrschte im Ort. Niemand konnte es fassen, dass ein seit seiner Geburt hier ansässiger und allseits angesehener Bürger am helllichten Tag unmaskiert die nur 200 Meter von seiner Bäckerei entfernte Bank überfallen und drei Menschen kaltblütig niedergemetzelt haben sollte.

"Die wahren Täter laufen frei herum"

Aber dann kam eine solche Fülle belastender Indizien zutage, dass schließlich kaum noch jemand in Siegelsbach an der Schuld des Bäckers zweifelte. Und jetzt - der Freispruch. Der Haftbefehl ist aufgehoben, der Bäckermeister ist wieder ein freier Mann.

Das Gericht hat sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht. Auch die Strafkammer, sagte Richter Bender, sei zunächst davon ausgegangen, dass der Fall klar liege und eine Verurteilung "ziemlich sicher" zu erwarten sei. Diese "vordergründige Sicherheit" sei aber im Verlauf der Verhandlung nachhaltig erschüttert worden. Bei einer sorgfältigen Prüfung der Indizien hätten sich erhebliche Zweifel an der Schuld des Bäckermeisters ergeben, sodass das Gericht schließlich zu der Überzeugung gelangt sei: "Die Unschuld des Angeklagten steht fest. Die wahren Täter laufen frei herum."

Die Indizien: Das waren an erster Stelle die Aussagen der Überlebenden. Beide ließen vor Gericht keinen Zweifel daran, dass sie Alfred B. als Täter erkannt hatten. "Die Tür ging auf, und er kam raus, und es war der Bäcker B.", sagte der Rentner Hermann C., "ich kannte ihn schließlich". "Wirklich hundertprozentig?", hakte der Richter nach. C. zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde: "Ja. Ganz sicher." Auch der Bankangestellte Thorsten M. ließ keinen Zweifel aufkommen: "Ich habe ihn erkannt."

Bei der Durchsuchung des Bäckerhauses tauchten 14.970 Euro auf

Dem Gericht reichte das nicht aus. Das Erinnerungsvermögen des Bankangestellten sei wegen der schweren Kopfverletzungen, die ihm der Räuber zufügte, nicht zuverlässig, und der Rentner sei sich unmittelbar nach der Tat noch keineswegs so restlos sicher gewesen wie später bei der Polizei und vor Gericht. Auf diese Aussagen allein, so Richter Bender, lasse sich keine Verurteilung stützen.

Als Nächstes: Die Beute. 33.514 Euro packte der Bankräuber ein, und zwei Tage später fand die Polizei bei der Durchsuchung des Bäckerhauses versteckt in der verstaubten Rückwand eines alten Kühlschranks 14.970 Euro, die in einer blitzblanken, völlig staubfreien Brieftasche steckten.

Nur wenige Stunden nach dem Überfall hatte B. bei der Volksbank im benachbarten Bad Rappenau 10.000 und tags drauf noch einmal 4970 Euro in bar einbezahlt, unter anderem mit 14 500-Euro-Scheinen - 15 solcher Scheine befanden sich bei der Beute.

Woher das Geld stammte, wollte der Bäcker nicht sagen. "Schwarzgeld", war alles, was die Polizei ihm entlocken konnte. Der Ermittlungsrichter hatte auf B. eingeredet: hier gehe es um Mord, nicht um Schwarzgeld. B. blieb stur. "Die Herkunft des Geldes konnte nicht geklärt werden", resümierte der Richter. Aber aus dem Schweigen des Angeklagten dürften keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Auch vor Gericht schwieg B. Nur einen Satz sagte er, ganz zum Schluss: "Ich war's nicht."

Weitere Indizien: Die Tatwaffe. Es müsse sich um einen Nachbau einer Walther PP, Kaliber 7,65 handeln, sagte ein Gutachter. Eine solche Waffe hatte der Angeklagte, ein passionierter Jäger, von seinem Vater geerbt und später als verloren gemeldet. Sie blieb bis heute verschwunden. Beweiswert? Gleich null, sagt das Gericht.

Eine Feuerstelle im Wald, von der am Nachmittag nach der Tat Rauch aufstieg. In der Asche fand man Papierreste mit Adressenaufklebern des Bäckers, und mehr als ein Jahr später, bei einer gründlichen Nachsuche, Fladen einer geschmolzenen Kautschukmischung, die mit dem Material besonders hochwertiger Jagdstiefel übereinstimmte, die der Angeklagte nachweislich besessen hatte.

Ein Schuhabdruck der zugehörigen Profilsohle wurde in einer Blutlache am Tatort gesichert. Kein Beweis, sagt das Gericht. Nicht auszuschließen, dass jemand, der dem Bäcker übel wollte, den Gummifladen nachträglich in der Feuerstelle eingebuddelt habe.

Vorwürfe an die Polizei

Ausschlaggebend für den Freispruch war der durch viele Zeugenaussagen belegte Ablauf der Viertelstunde, in der sich die Tat zugetragen haben muss. Da ging es um Minuten, sogar um Sekunden, wer wann wo dem Bäcker begegnet oder nicht begegnet war. Fazit des Gerichts: Er kann nicht der Täter gewesen sein.

Vorwurf an die Polizei: Sie habe sich zu schnell auf den Bäckermeister als Täter konzentriert und Hinweise auf andere Täter außer Acht gelassen. "Das Entsetzen über die Tat", so Richter Bender, "darf nicht blind machen. Für bloße Gefälligkeitsurteile ist in einem Rechtsstaat kein Raum."

Entsetzen herrscht über das Urteil, jedenfalls bei Staatsanwalt Martin Renninger. "Ein krasses Fehlurteil, das keinen Bestand haben wird", sagt er. Die überlebenden Opfer sind schockiert. "Mein Vater", sagt die Tochter des knapp dem Tode entronnenen Rentners Hermann C., "kann nicht mehr nach Hause. Er hat Angst. Und wir haben Angst um ihn." Wie das Leben in Siegelsbach weitergehen soll, wenn B. zurückkehrt, mag niemand voraussagen. "Zweifellos eine schwierige Situation", sagt Bürgermeister Ulrich Kremsler.

Bestätigt sieht sich hingegen B.s Verteidigerin Anke Stiefel-Bechdolf: "Es wurden Fiktionen und Unterstellungen zu Indizien gemacht", sagt sie. Aber als Siegerin fühle sie sich nicht: "Nach diesem Prozess gibt es nur Verlierer."

© SZ vom 22.04.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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