Prozessbeginn:"146 Schuss neun Millimeter"

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Einen ganzen ICE wollte der junge Mann mit einer Pistole bewaffnet in seine Gewalt bringen. (Foto: John Macdougall/AFP)

In Berlin muss sich ein Mann vor Gericht verantworten, der im November 2014 einen ICE entführen und Politiker damit zwingen wollte, sich gegen die Anerkennung Palästinas auszusprechen.

Von Verena Mayer, Berlin

Im November 2014 bestieg ein junger Mann am Berliner Hauptbahnhof den ICE nach Hamburg, um ihn zu entführen. Der 24-Jährige hatte eine Schreckschuss-Pistole im Rucksack, und als der Zugchef auf ihn zukam, schoss er in die Luft und zwang ihn, die Verkehrsleitung in Berlin anzurufen und einen Zettel zu verlesen. Darauf stand, dass er 2,5 Millionen Euro fordere und dass der Bundespräsident und die Kanzlerin höchstpersönlich sich in einer Pressekonferenz "hinter Israel stellen" und sich dagegen aussprechen sollen, dass Länder wie Schweden und Großbritannien Palästina anerkannt haben. Der letzte Satz auf seinem Zettel lautete: "Falls es Komplikationen gibt, die es eigentlich nicht geben sollte: Ich habe 146 Schuss neun Millimeter!"

Seit Freitag steht David S. nun in Berlin vor Gericht. Mit Jeans, Brille und dem langen Haar, das er zu einem Zopf gebunden hat, sieht er aus wie ein Student, der auf den Beginn einer Vorlesung wartet. Doch David S. sitzt hinter dickem Panzerglas, seine Hände sind mit Handschellen gefesselt. Sein Prozess findet am Berliner Kammergericht statt, in einem Saal, in dem normalerweise Terroristen angeklagt werden. Und tatsächlich ist das eine Frage, die hier im Raum steht: Ob man auch in Deutschland damit rechnen muss, dass Leute mit Waffen losstürmen, um ihren politischen Ansichten Ausdruck zu verleihen.

Der Richter befragt den Angeklagten zunächst einmal nach seinem Leben. David S. stammt aus einem kleinen Ort in Baden-Württemberg. Die Familie war streng religiös, in der evangelischen Freikirche aktiv und lebte sehr zurückgezogen. David S. ist der Jüngste und durfte als Erster in seiner Familie einen Fußballverein besuchen, später verbrachte er seine Freizeit vor allem bei Lan-Partys vor dem Computer. S. erzählt das alles langsam und stockend. Den Kopf hält er gesenkt, manchmal weint er. In der Schule wurde David S. gemobbt und "Schwein" genannt. Er wog 120 Kilogramm, musste Medikamente gegen Depressionen nehmen, und wenn er Alkohol trank, wurde er gewalttätig. Als Jugendlicher versuchte er, eine Bank zu überfallen; in der psychiatrischen Klinik, in der er behandelt wurde, schlug er einen Pfleger mit einer Fensterkurbel nieder.

David S. erzählt, er "wollte weiterkommen, etwas machen". Also bestellte er sich eine Waffe

Wie er denn auf Israel gekommen sei, will der Richter schließlich wissen. Seine Großmütter seien jüdischer Abstammung gewesen, sagt David S., daher habe ihn das Thema interessiert, und er habe "im Internet etwas über den Nahostkonflikt gelesen". Vor allem aber habe er "keinen Halt gehabt und das Gefühl, es lohnt sich alles nicht", sagt David S.

Vor Gericht ergibt sich das Bild eines jungen Mannes, der sich in seinem Leben so verrannt hat, dass ihm nur ein Verbrechen als Ausweg erscheint. "Ich wollte weiterkommen, etwas machen." David S. bestellte im Internet eine Waffe für 130 Euro und fuhr damit von Süddeutschland nach Berlin. Er streunte zwei Tage durch die Hauptstadt, ohne zu schlafen, spazierte durch Parks und U-Bahnhöfe, dazwischen sah er sich Hotels an. Das nämlich sei sein ursprünglicher Plan gewesen, sagt er vor Gericht. In eine Lobby stürmen und dort Geiseln nehmen.

Dann stieg er jedoch um fünf Uhr morgens am Hauptbahnhof in einen ICE und schoss um sich. Der Zugchef informierte die Leitstelle der Bahn, der Zug fuhr in den Bahnhof Nauen ein. Als David S. dort die Fahrgäste in einem Wagen zusammentreiben wollte, gelang es einigen von ihnen, ihn zu überwältigen und der Polizei zu übergeben. "Geisteskrank, bewaffnet" vermerkte die Polizei. Ein psychiatrischer Sachverständiger soll nun klären, ob David S. zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig war. Einiges spricht dagegen, ein Arzt stellte bei David S. eine paranoide Schizophrenie fest. Die Richter wollen im September ein Urteil fällen.

© SZ vom 17.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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