Prozess im Mordfall Sittensen:So weit die Beweise tragen

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Sieben Tote, fünf Angeklagte, viele Unklarheiten - in Stade beginnt der Prozess gegen die Männer, die das Blutbad in einem China-Restaurant in Sittensen angerichtet haben sollen.

Ralf Wiegand

Eine riesige Bauplane verdeckte zuletzt den Blick auf das Haus, das für immer ein Tatort bleiben wird. Bauarbeiter haben den Grundriss der ersten Etage völlig verändert. Die Skizzen davon, wie es früher hier aussah, finden sich noch in den Akten der Ermittler und des Gerichts. An der Seite der Eingang, die Theke in der Mitte, der kleine Teich mit dem Brückchen darüber, die Tische am Fenster. Und die Leichen; die Umrisse, wo sie lagen, wie sie gekrümmt waren. Drei Frauen, vier Männer, alle erschossen.

In diesem China-Restaurant fand das Blutbad statt (Foto: Foto: dpa)

"Das war ein ganz außergewöhnliches Verbrechen", sagt Wilfried Behrendt, der Anwalt eines der fünf Angeklagten, denen von heute an in Stade der Prozess gemacht wird. Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher, die Täter zu haben. Ob der siebenfache Mord im China-Restaurant Lin Yue aber jemals gesühnt wird, ist trotzdem völlig offen.

Die Hamburger Straße in Sittensen. Laster brausen vorbei, und gegenüber im Supermarkt geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Die Frau vom Getränkeshop sagt, im ersten Stock des Hauses dort drüben, wo man früher auch ein Mittagsmenü zum günstigen Preis bekam, acht Köstlichkeiten, Hühnchen süß-sauer, so etwas, da seien jetzt Büroräume drin. "Nur noch Büros. Als Restaurant ging das ja nicht mehr."

Im vergangenen Februar war der Supermarkt noch eine Art Basislager für die Journalisten aus ganz Deutschland und aus Asien gewesen, die tagelang live vom Blutbad in Sittensen berichteten. Am Bäckereitresen kam die Bedienung gar nicht damit nach, Brötchen zu belegen und heißen Kaffee aufzubrühen. So ein Verbrechen hatte es hierzulande noch nicht gegeben.

Und so einen Prozess, sagt Wilfried Behrendt, auch nicht. "Sieben Tote, so etwas hat man ja normalerweise nur bei einem Amoklauf." Aber nach einem Amoklauf gibt es so gut wie nie eine Verhandlung vor Gericht, "weil der Amokläufer ja meistens tot ist." Im Fall des Massakers von Sittensen sind die Ankläger aber überzeugt davon, die Täter gefunden zu haben. "Die Beweislage ist gut", sagt Burkhard Vonnahme von der Staatsanwaltschaft Stade.

Tötung per Kopfschuss

Fünf Männer im Alter von 30 bis 42 Jahren, alle Vietnamesen, zwei Brüderpaare darunter, müssen sich vor dem Landgericht dem Vorwurf des schweren Raubes stellen, drei von ihnen zusätzlich dem des gemeinschaftlichen siebenfachen Mordes. Ein Angeklagter hat demnach das Restaurant Lin Yue in Sittensen ausgekundschaftet.

Der Ort liegt nicht weit weg von der Autobahn A1, die Bremen mit Hamburg verbindet, in einer Gegend, in der abends kaum ein Mensch auf der Straße ist. Die Geschäfte der aus Hongkong stammenden Wirtsleute, die alle nur Danny und Emmy nannten, liefen gut. Der Angeklagte, behauptet die Staatsanwaltschaft, wusste, was es da zu holen gab und wie die Gewohnheiten der Betreiber und ihrer Angestellten waren. Er hat mal als Aushilfe dort gearbeitet.

Einen zweiten Angeklagten, dem nur schwerer Raub, aber kein Mord vorgeworfen wird, hält die Staatsanwaltschaft für den Fahrer der Bande. Er soll die Männer am späten Abend des 4. Februar von Bremen nach Sittensen chauffiert und vor dem Lin Yue gewartet haben, um sie auch wieder zurückzubringen. Er habe gewusst, dass ein Raub geplant gewesen sei, sagt Vonnahme.

Aber ob er auch gewusst hat, was drinnen im Lokal wirklich geschehen würde? Drei der fünf Angeklagten sollen im Restaurant gewesen sein, sie stehen unter Mordverdacht. Ob sie reden werden, ob sie einen von ihnen ans Messer liefern oder sich gegenseitig entlasten werden? "Es hängt sehr davon ab, wie sich die Verteidigung verhalten wird", sagt Staatsanwalt Vonnahme. "Vielleicht spielt sie ja mit offenen Karten."

Drohender Justizpoker

Es wird aber wohl doch eher ein Justizpoker. Für Anwalt Behrendt gibt es jetzt schon eine Menge offener Fragen, die alleine seinen Mandanten betreffen. Der gehört zu jenen beiden Verdächtigen, die gleich am Tag nach dem Mord bei einer Verkehrskontrolle festgenommen wurden, er saß auf dem Beifahrersitz.

Der Fahrer des Wagens, den Behrendts Kanzlei anfangs auch vertreten hatte, hat ihn später in einem Teilgeständnis schwer belastet. Behrendt sagt, es sei ungeklärt, wie es überhaupt zu dieser Aussage gekommen sei. Die Ermittler hätten einen befreundeten Dolmetscher eingesetzt, "da stellt sich die Frage nach der Verwertbarkeit". Um solche Sachen wird es gehen. Auch der Gerichtssprecher in Stade sieht eine "nicht mal dreißigprozentige Chance, dass wir in diesem Jahr mit der Verhandlung fertigwerden".

Es ist ja auch eine monströse Anklage. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Raub in dem Restaurant eskaliert ist, "aus Gründen, die wir nicht kennen", sagt Vonnahme. Womöglich wollte eines der Opfer fliehen, wurde erschossen, weswegen die anderen zu Zeugen wurden, die es zu beseitigen galt. Andererseits spricht die Staatsanwaltschaft von Fesselungen und Folterungen. Die Täter benutzten eine Waffe mit Schalldämpfer.

In den Tagen nach der Tat, als die Einzelheiten durchsickerten von der hinrichtungsgleichen Tötungsart per Kopfschuss, von all dieser strategischen Gewalt, schien alles auf die Mafia hinzudeuten, auf chinesische Triaden oder vietnamesische Zigarettenhändler. Zu ermitteln war das offenbar nicht. Die Polizei, hieß es, sei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Verhandelt wird vor Gericht deshalb nur das Geschehen, das zu rekonstruieren war: ein eskalierter Raub.

Die Bauplane am Haus in der Hamburger Straße ist seit vergangenem Freitag verschwunden. Die Fassade leuchtet jetzt in einem freundlichen, sonnigen Gelb, als wollte das Haus noch einmal neu anfangen. Vom Restaurant Lin Yue ist nichts geblieben als eine leere Tafel auf dem Schild vor der Tür.

© SZ vom 27.08.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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