Österreich nach dem Drama von Amstetten:Düstere Abgründe

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Das Entsetzen, das sich nach der Entdeckung des Verlieses im niederösterreichischen Städtchen Amstetten breitgemacht hat, weicht im Land einer anderen Sorge: das Image der Republik selbst könnte Schaden nehmen an den Taten des Kinderschänders und Kerkermeisters Josef F.

Michael Frank

"Es gibt keinen Fall Amstetten. Es gibt keinen Fall Österreich." Was Bundeskanzler Alfred Gusenbauer da in Wien ausrief, war mehr Beschwörung als Befund, mehr Rüge und Aufforderung an die Medien. Gusenbauer fordert angesichts eines einzelnen, furchtbaren Verbrechens, nicht gleich aus ganz Österreich eine Mördergrube zu machen.

Das Haus des Kerkers: Das Schicksal von Menschen wie Elisabeth F. und ihren Kindern in Amstetten sowie das Schicksal von Natascha Kampusch wecken Urängste. (Foto: Foto: Reuters)

Das Entsetzen, das sich nach der Entdeckung des Verlieses im niederösterreichischen Städtchen Amstetten breitgemacht hat, weicht offenbar im Land recht schnell einer anderen Sorge: das Image der Republik selbst könnte Schaden nehmen an den Taten des Kinderschänders und Kerkermeisters Josef F.

Sein Ruf als Land der höfischen Artigkeiten, als Hort von Stil und Musik, als alpenländisches Arkadien steht in den Augen der politischen Repräsentanten auf dem Spiel. Muss Österreich nun, angesichts der Empörung in aller Welt über dieses schaurige Verbrechen, um sein neu erstarktes Selbstbewusstsein fürchten, das sich gerade erst an die Stelle der alten Selbstzweifel gesetzt und den Komplex verdrängt hat, zu klein, zu schwach, zu abgründig und verlogen zu sein?

Düstere Abgründe

Voreilige Beobachter kombinieren die jahrzehntelange Kultur des Verschweigens nach dem Krieg jetzt mit bestimmten Österreich-Klischees und setzen diese zu einem neuen, dämonischen Gesamtbild zusammen. Die Frage, die folgt, lautet: "Warum werden gerade in Österreich solche Bestien geboren?" Hinter "Walzer, Jodler und Kuckucksuhren" werden beängstigende Abgründe geortet, da wird eine biedermeierliche Fassade als Tarnung von Niedertracht und Grausamkeit interpretiert, da wird ein Biotop gesichtet, in dem Sigmund Freud zwangsläufig fündig werden musste.

Was Wunder: Die Einkerkerung von Menschen wie Elisabeth F. und ihren Kindern in Amstetten sowie das Schicksal von Natascha Kampusch wecken Urängste, wecken das Gefühl von Einsamkeit und Erniedrigung. Was aber nicht nur Gusenbauer so aufbringt, ist die eilige Tendenz, diesem Land mit seinen vielen Annehmlichkeiten und Vorteilen auch gleich automatisch besonders düstere Abgründe als Kehrseite zuzuordnen.

Bemerkenswerterweise sind es dabei weniger ausländische Medien als die österreichischen Kommentatoren selbst, welche die Frage stellen, ob ein Fall wie der von Amstetten nicht auch mit der historischen Praxis der Verdrängung und Verleugnung zu tun hat. Und so wird nun debattiert, ob die hartnäckige Negierung von NS-Verbrechen, ob ein einstiger Bundespräsident Kurt Waldheim und dessen mangelndes Geschichtsbewusstsein, ob der ganze, bequeme Opfer-Mythos vielleicht abfärben auf das persönliche Verhalten der Österreicher?

Die Antwort lautet Ja und Nein zugleich. Zwar haben die Grausamkeiten und Greuel von Amstetten und die Entführung des Schulmädchens Natascha selbst nichts spezifisch Österreichisches an sich. Eine direkte Linie von Nazi-Verbrechen bis Amstetten zu ziehen, wie dies derzeit manch einer tut, ist unsinnig. Die Umstände aber, unter denen die Taten verübt wurden und unentdeckt blieben, haben durchaus mit den Befindlichkeiten dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte zu tun.

Deshalb ist folgende Interpretation eines österreichischen Kommentators interessant: Josef F. aus Amstetten habe kein Doppelleben geführt. Seine über- und unterirdische Existenz seien eben das einzige, normale Leben eines extrem autoritären Charakters gewesen. Eines Menschen, dessen Art, Kinder mit Verboten, Tabus und Gewalt, also einer Art Terrorregime, zu überziehen und ihnen nach eigener Lesart Manieren beizubringen, eher Anerkennung als Kritik geerntet habe. Österreichs Gesellschaft akzeptiert so etwas immer noch.

Geheimniskrämer, Schweiger, Anonymitätsfanatiker

Bei aller Umsicht und der - wenn auch kriminellen - "sozialen Kompetenz", die man dem Amstettener Täter amtlich attestierte, hat ihm einiges in die Hände gespielt, was Österreich prägt: die Vorliebe für extreme Geheimniskrämerei, ein hysterischer Kult um die Diskretion. Bis vor gar nicht langer Zeit gab es in Österreich zum Beispiel ein anonymes Sparbuch, das erlaubte, ohne jede Identifikation Geld auf der Bank zu horten. Hauptnutzer waren nicht Steuerhinterzieher und Geldwäscher, sondern Millionen Österreicher.

Diese verheimlichten so den eigenen Familien ihre wahren Einkommensverhältnisse. Schon das Österreich des Fürsten Metternich war gekennzeichnet durch einen durchorganisierten Polizei- und Spitzelstaat. Im Widerstand dagegen, aber auch analog zu den geheimen Kabalen des Kaiserhofes entwickelten sich wahnhafte Diskretionsbedürfnisse. Geheimniskrämer, Schweiger, Anonymitätsfanatiker gelten bis heute als "normal".

Die Reaktion darauf: eine obskure, nicht weniger wahnhafte Neugier, die alles zu erkunden sucht, was man selbst verbergen möchte. Das führt zu einer bemerkenswerten Tatsache: In keinem Land Europas werden so viele Straftaten aufgrund anonymer Anzeigen bekannt. Ergo: Hinschauen ist verpönt; aber wenn man schon hinschaut, dann gleichsam hinter der Maske des Spitzels. Spezifisch österreichisch ist das nicht, auch nicht mit Blick auf den Fall Amstetten. Die Akzeptanz dieser Verhaltensweisen aber schon.

© SZ vom 02.05.2008/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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